Wirtschaftsumbau
„Wie Subventionen den Fachkräftemangel verschärfen“
Von Andre Kartschall und Aspasia Opitz, rbb, Stand: 31.10.2023 06:47 Uhr
„Wie Subventionen den Fachkräftemangel verschärfen“
Stand: 31.10.2023 06:47 Uhr
In die Region Cottbus fließen Milliarden Fördergelder für den Ausstieg aus der Braunkohle. Das sorgt auch für
Probleme: Große Neuansiedlungen machen der örtlichen Wirtschaft die Fachkräfte streitig.
Von Andre Kartschall und Aspasia Opitz, rbb
Interviewauszug mit Dr. Harald Michel,
I/F/A/D - Berlin / Brandenburg
So hatte sich Lars Wertenauer das nicht vorgestellt mit dem Wirtschaftsaufschwung in der Lausitz. Er ist Geschäftsführer der Metall-Form-Technik GmbH in Kolkwitz im Südosten Brandenburgs. Und seit einigen Monaten kommen ihm immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhanden - abgeworben von umliegenden, größeren Unternehmen.
Von einst 60 Angestellten hat er allein in diesem Jahr sechs verloren. Einige gingen zur Deutschen Bahn, die in Cottbus ein ICE-Instandhaltungswerk baut. Andere verabschiedeten sich zum Braunkohleunternehmen LEAG, das nach eigenen Angaben „an einer grünen Zukunft arbeitet“; mit Solarparks und Stromspeichern.
In die Aufbruchsstimmung mischt sich seitdem eine gewisse Ernüchterung. Wertenauer hat es bei Ingenieuren und Technikern beobachtet. „Da werden Mitarbeiter aktiv abgeworben.“ Die neu ankommenden Unternehmen zahlten teilweise sogar Handgeld, als Startprämie sozusagen. Das berichten auch weitere Unternehmer aus der Region.
Demographischer Wandel schlägt zu
Die großen Konkurrenten haben schlicht ein besseres Gehalt anzubieten. Und das, obwohl Wertenauer seinen Mitarbeitern Tariflöhne zahlt. Der Mittelstand in der Lausitz klagt seit Jahren über Fachkräftemangel. Die Einwohnerzahl der Region um Cottbus sinkt seit Jahren - der demographische Wandel schlägt hier mit voller Wucht zu.
Um die wirtschaftlichen Folgen des bevorstehenden Kohleausstiegs abzufedern, gibt es reichlich Subventionen für die Region: Regional- und Kommunalförderung, Unternehmensförderung und Gelder für öknomisch-ökologischen Wandel. Das heiăt auf gut Deutsch: Es werden Arbeitsplätze geschaffen, viele davon mit Hilfe von Steuergeldern.
Die Deutsche Bahn allein will in Cottbus 1.200 Angestellte beschäftigen - in einem Instandhaltungswerk für ICE-Züge, das Anfang kommenden Jahres in Betrieb gehen und 2026 unter Volllast laufen soll. Angestellte, welche die Bahn irgendwo hernehmen muss. Wertenauer sagt: „Bei dem, was die Bahn als finanzielle Kraft mitbringt, können wir als kleiner Mittelständler nicht mithalten.“
Abwerbungen nach der Ausbildung
Wertenauer ist mit seinem Unmut nicht allein: Autohäuser in Cottbus klagen, dass ihnen frisch ausgebildete Mechatroniker nach der Lehre einfach reihenweise abgeworben werden. So etwas gab es bis vor kurzem innerhalb der Region kaum. Der staatlich mitfinanzierte Wirtschaftsaufschwung verschärft den Fachkräftemangel anscheinend enorm - und schwächt den eingesessenen Mittelstand.
Dabei gibt es Wissenschaftler, die vor solchen Effekten schon vor Jahrzehnten gewarnt haben. Harald Michel vom Institut für angewandte Demographie in Berlin etwa. Für ihn ist der staatliche Geldregen, der über der Lausitz ausgeschüttet wird, nur ein politisches Zeichen: „Nach dem Motto: Wir haben die Region nicht aufgegeben. Die Probleme, die das in einer schrumpfenden Region mit sich bringt, sieht man eben schon jetzt: die Kannibalisierung.“
Minusgeschäft Lausitz?
Das Problem der „Kannibalisierung“ sei seit mindestens 25 Jahren in der Forschung bekannt. Wenn die Bevölkerung schrumpfe - und das tut sie in der Lausitz - sei es fast unmöglich, politisch gegenzusteuern: „Der Kuchen wird einfach immer kleiner. Und wenn man gegen die organische Schrumpfung mit Förderpolitik angeht, induziert man vielleicht so etwas wie ein künstliches Wachstum - aber eben nur regional“, sagt Michel.
Auf Gesamtdeutschland betrachtet habe das aber negative Folgen. „Das ist volkswirtschaftlich noch nicht einmal ein Nullsummen-Spiel, sondern ein Minus-Spiel“, sagt Michel. „In schrumpfende Regionen solche Summen zu investieren bedeutet volkswirtschaftlich einen Verlust. Die Mittel wären in wachsenden Regionen effektiver angelegt.“
Das Problem ist in der Lausitz erkannt - eine Lösung nicht in Sicht. Manuela Glühmann von der Industrie- und Handelskammer Cottbus erklärt: „Natürlich mahnen wir die großen Player an, fair damit umzugehen, gerade Deutsche Bahn und LEAG. Und wir wissen auch, dass die sich der Verantwortung bewusst sind.“ Aussagen, die viele Unternehmer in der Lausitz angesichts von Abwerbeprämien eher skeptisch sehen.
Mittelständler Wertenauer setzt auf die Jugend, wie er sagt: „Wir bilden gern und mit Leidenschaft neue Azubis aus.“ Zweimal hat sein Metallverarbeitungsbetrieb bereits einen Ausbildungspreis gewonnen. Doch ob der Nachwuchs anschließend auch im Unternehmen bleibt, scheint unsicherer als jemals zuvor.
Mehr zum Thema Fachkräftemangel: Tagesschau.de
(Übersetzung von 'zAppAx')

Harald Michel
DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG UND AUSWIRKUNGEN AUF DIE RAUMENTWICKLUNG - AM BEISPIEL BRANDENBURG UND DER UCKERMARK
Schlűsselwőrter: Demographischer Wandel - Alterung - Schrumpfung - regionale Differenzierung - Raumentwicklung
Harald Michel
Demographische Entwicklung und Auswirkungen auf die Raumentwicklung - am Beispiel Brandenburg und der Uckermark
Demographic Development and Impacts on Spatial Development - the Example of Brandenburg and the Uckermark
Abstract
The main effects of demographic change - shrinkage and aging on the one hand and increasing concentration on the other - are extremely differentiated
in spatial terms. The resulting set of problems is huge and, at the same time, complex. Regional planning models and plans should pay more attention to
the demographic trends. The coexistence of growth, restructuring and shrinking processes requires flexible solutions adapted to the specific region.
The article illustrates the challenges using the Uckermark district as an example.
Keywords
Demographic change - Aging - Shrinkage - Depopulation - Regional differentiation - Spatial development
1 Demographische Ausgangslage¹
Die demographischen Entwicklungen deuten darauf hin, dass in 40 Jahren deutlich weniger Menschen in Deutschland leben werden als
heute. Bei schwächerer Zuwanderung sinkt die Einwohnerzahl von jetzt 83,2 Mio. auf 74,4 Mio., also um mehr
als 10 Prozent. Selbst bei moderatem Zuzug wie im Schnitt der letzten Jahrzehnte sinkt sie noch auf 78,2 Mio. (14. Koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung; Statistisches Bundesamt 2019)
Dass die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, ist im Kern nicht das Problem. Viel brisanter ist die Veränderung
der Altersstruktur, die grundlegende Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Zusammenleben haben wird. Gleichzeitig werden
sich die demographischen Unterschiede innerhalb Deutschlands durch Wanderungsprozesse und Eigendynamik weiter vergrößern.
Insbesondere die neuen Bundesländer gehören vermehrt zu den Regionen Deutschlands, die von dieser sich selbstverstärkenden
Entwicklung geprägt werden.
1.1 Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Regionen Ostdeutschlands
Die Hauptauswirkungen des demographischen Wandels - Schrumpfung und Alterung bei gleichzeitiger zunehmender Konzentration und
Internationalisierung (verbunden mit einer zunehmenden Bedeutung der Integrationsproblematik, vor allem in den großen
Agglomerationen Westdeutschlands) auf der anderen Seite - zeigen sich räumlich extrem differenziert und sie verlaufen in den
Ländern, Regionen, Städten und Gemeinden Deutschlands nicht proportional oder linear und nicht entlang politischer oder
administrativer Grenzen. Wir erleben ein Nebeneinander von Wachstums- und Schrumpfungsprozessen. In einer groben
Űberblicksbetrachtung existiert eine demographisch bedingte Zweiteilung Deutschlands in Bezug auf diese Entwicklung:
Neben prosperierenden Ballungszentren, die eine steigende Anziehungskraft ausüben, erleben weite Teile Nord- und
Ostdeutschlands, vor allem in den ländlichen Peripherien, den Wandel als Schrumpfung mit dem Entstehen sich mehr
und mehr entleerender Räume bis hin zur Entvölkerung bei einer raschen Zunahme des Anteils der älteren Bevölkerung.
Die Einwohnerzahl in den ländlichen peripheren Regionen wird in den nächsten 20 Jahren stärker schrumpfen als in den vergangenen
22 Jahren und der Prozess der Verschiebung der Altersstruktur (Aging) an Tempo zulegen, was zu einer weiteren Vergrößerung der
demographischen Unterschiede führen wird. Dies bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Siedlungsstrukturen und deren Entwicklung,
vor allem in Ostdeutschland. Die ländlich geprägten Räume, die ca. vier Fünftel der ostdeutschen
Bundesländer ausmachen, unterliegen permanenten und weitreichenden demographischen Veränderungsprozessen, die insbesondere
die Gewährleistung der Daseinsvorsorge in immer mehr Gebieten infrage stellen. Dieser Prozess wird noch zusätzlich durch
die Binnenwanderung in Ostdeutschland selbst verstärkt, indem sich einige wenige städtische Zentren durch Zuzug aus dem
ländlichen Raum, allerdings nur vorübergehend, stabilisieren können. Diese Prozesse befördern einerseits
die beschleunigte „Verödung“ weiterer Landstriche. Reflektiert werden sollten deshalb
Demographiekonzepte und Initiativen im Wettbewerb um Einwohner (EW), deren längerfristiger Nutzen für die Kommunen unklar ist.
Die größten Herausforderungen bei der Bewältigung des demographischen Wandels in Ostdeutschland, mit dem Kernpunkt der
Gewährleistung der Daseinsvorsorge für einen großen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Landesteile, stehen somit
noch bevor und werden zunehmende Probleme verursachen.
Diese demographischen Verhältnisse in Ostdeutschland werden bisher hauptsächlich an einem besonders ausgeprägten
Alterungs- und Schrumpfungsprozess festgemacht. Gleichwohl weisen diese Regionen seit Jahren - auch eine unter
Gendergesichtspunkten - deutlich asymmetrische Entwicklung der Abwanderung auf, die insbesondere in den ländlichen
Teilräumen der Kreise bis heute in den jüngeren Altersgruppen der Erwerbsbevölkerung zu einer ausgeprägt männlichen
Ǖberzahl geführt hat. In Kombination mit den bereits bekannten wirtschaftlichen und sozialen Problemen stellt
diese geschlechtsspezifische demographische Schieflage die Region schon heute, aber vor allem mittel- und langfristig
vor große Herausforderungen.
Dabei ist die Situation differenziert: Während die Geschlechterproportionen der Städte in Ost- und Westdeutschland
sich in etwa auf einem vergleichbaren Niveau befinden und in Universitätsstädten sogar ein Frauenüberschuss besteht,
unterscheiden sich die ländlichen Regionen in Ost- und Westdeutschland im Hinblick auf das Defizit an Frauen
gravierender denn je. Gerade in jüngeren Altersgruppen zeigt sich eine überproportionale weibliche Abwanderung
aus ländlichen Regionen, während diese Geschlechterselektivität bei älteren Frauen in den meisten Regionen genau
umgekehrt verläuft. Von diesem zahlenmäßig großen Ungleichgewicht von Männern und Frauen jüngerer und teilweise
schon mittlerer Jahrgänge einer Region sind insbesondere Landkreise im Norden Ostdeutschlands, aber auch in Thüringen
und Sachsen-Anhalt betroffen. In einigen Landkreisen liegt der Männerüberschuss bei den 18 bis 25-Jährigen bei 20 Prozent.
Die daraus folgende Problemlage ist enorm und gleichzeitig vielfältig. Die demographischen, wirtschaftlichen und sozialen
Auswirkungen dieser Entwicklung gehen über die unmittelbaren Effekte der Abwanderung großer Teile einer jeweiligen
„Muttergeneration“ hinaus. Sie können auf mittlere und längere Sicht zurzeit noch gar nicht voll ermessen
werden, Beispiel: Versorgung der älteren Angehörigen (so wird die Zahl der potenziellen Pflege-Personen in den
Familien in Ostdeutschland selbst bei konservativen Berechnungen bis 2035 um mindestens 25 Prozent abnehmen und
dies bei absolut und relativ ansteigender Zahl der Pflegebedürftigen) oder regionale Dominanz bzw. Toleranz
gegenüber männlich konnotierten devianten Verhaltensweisen, die in der Außensicht auf die Region nachhaltig
imageschädigend wirken können. In einer Situation, in der überdies nicht nur die Zahl der Jugendlichen, die die
Schule verließen, seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgeht, sondern sich Prognosen zufolge weiterhin
dramatisch verringern wird, ergibt das in der Summe eine außerordentlich schwierige demographische Ausgangssituation
(Michel 2017).
1.2 Ursachen der Entwicklung
Infolge der Abwanderung besonders junger Menschen (von 1991 bis 2012 in der erheblichen Größenordnung von über 1,8 Mio. Personen) sowie des Geburteneinbruchs seit 1989/90 erleben die neuen Länder insgesamt einen gravierenden Alterungsprozess. Im Jahr 1990 gehörten die neuen Länder mit einem Altenquotienten von unter 20 (bzw. knapp über 20) zu den Ländern mit relativ wenigen Älteren im Verhältnis zur Bevölkerung im Erwerbsalter. Im Jahr 2030 werden Altenquotienten von über 70 erreicht. Sachsen-Anhalt hat dann voraussichtlich einen Quotienten von 71, Mecklenburg-Vorpommern von 70 und Thüringen von knapp 70.
1.3 Persistenz der Prozesse
Von einer Trendumkehr kann gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine Rede sein. So laufen ausnahmslos alle demographischen Prozesse in Ostdeutschland auf den seit ca. 20 Jahren aufgezeigten Pfaden: Der Alterungs- und Schrumpfungsprozess geht unvermindert weiter und wird im Vergleich zu den westdeutschen Ländern an Intensität sogar noch zunehmen. Seit 2010 rücken die nach der Wende in Ostdeutschland geborenen Generationen ins wanderungsaktive Alter. Diese Altersjahrgänge sind aus bekannten Gründen (Geburteneinbruch) zahlenmäßig um bis zu 50 Prozent kleiner als die davor lebenden Jahrgänge. In vielen ostdeutschen Ländern ist also schlicht kaum jemand in den entsprechenden Altersgruppen vorhanden, der jetzt und in naher Zukunft abwandern könnte.
1.4 Die beschleunigte Entleerung der peripheren Räume
Im Fokus der Betrachtung stehen dabei die ländlichen Gebiete als periphere Räume. Sie machen in
Ostdeutschland etwa 80 Prozent der Fläche aus und beherbergen ca. 50 Prozent der Bevölkerung
(zum Vergleich: In den westdeutschen Ländern leben ca. 20 Prozent der Bevölkerung in ländlichen
Räumen, die etwa 50 Prozent der Fläche ausmachen). Gerade in diesen Gebieten wird sich in den
nächsten Jahren der demographische Wandel - Schrumpfung der Einwohnerzahlen, Alterung der
Bewohnerinnen und Bewohner - konzentriert und mit zunehmender Geschwindigkeit in allen Bereichen vollziehen.
Abb. 1: Regionen im demographischen Wandel / Quelle: BBSR 2014: 17
Dabei ist davon auszugehen, dass diese Disparitäten zu dauerhaften regionalen Unterschieden,
zu einer Verschärfung der Entwicklungsunterschiede zwischen städtischen Zentren und ländlich-peripheren
Räumen führen werden: ein direktes Nebeneinander von stark oder schwach schrumpfenden, stagnierenden und
temporär stabilen bis zu leicht wachsenden Regionen entsteht.
Hinzu kommen noch ungünstige geographische Bedingungen. So gibt es in Ostdeutschland erheblich weniger
Großstädte und Metropolregionen (Ausnahme Berlin), die als regionale Stabilitäts- und Entwicklungsanker dienen können.
Die Städte und Gemeinden in den beschriebenen ländlichen Regionen sind von den Folgen des demographischen
Wandels in besonderem Maße betroffen, für sie ergeben sich die vielfältigsten politischen und sozialen
Problemkonstellationen. Dabei erzeugen Wanderungsprozesse demographisch-soziale Disproportionen in der Alters- und
Geschlechtsstruktur. Der Bevölkerungsrückgang führt zur Unterschreitung der Tragfähigkeit der allgemeinen
Infrastruktur; damit steht die Aufrechterhaltung funktionsfähiger regionaler Arbeits- und Versorgungsmärkte
zur Disposition. Die starke Zunahme des Anteils alter Menschen stellt hohe Anforderungen an die lokalen Infrastrukturen
zur Sicherung der Daseinsvorsorge.
1.5 Temporäre Stabilisierung von Mittel- und Oberzentren durch Zuwanderung aus dem ländlichen Umland
Der Prozess der „Verödung“ der peripheren Räume im Zuge des demographischen Wandels wird noch
zusätzlich durch die Binnenwanderung verstärkt, indem sich einige wenige städtische Zentren durch
Zuzug aus dem ländlichen Raum, allerdings nur vorübergehend, stabilisieren können (Stabilitätsinseln).
In diesem Zusammenhang ist das in der aktuellen Politik gerade wieder diskutierte Ziel der Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen als Staatsziel in dieser Form nicht realistisch
und deshalb grundlegend neu zu bestimmen (vgl. BMI 2019).
Gleichheit kann und darf nicht länger hauptsächlich im Sinne von regionalen Ausstattungsmerkmalen verstanden
werden, sondern muss vielmehr als Herstellung von sozialer Chancengleichheit definiert werden. Einheitliche
Standards kann es angesichts der unterschiedlichen Entwicklung in den Teilregionen nicht mehr geben. Es sind
insbesondere in den schrumpfenden ländlichen Gebieten Mindeststandards neu zu definieren und räumlich abgestufte
und realistische Angebote an sozialen Diensten und Leistungen zu entwickeln. Der Zugang zu qualitativ
hochwertigen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen ist jedoch in allen Landesteilen zu sichern. Das bisherige
wachstumsorientierte Politikverständnis ist durch ein Paradigma der Schrumpfung und des Umbaus zu ergänzen.
Die vorwiegend auf die Verteilung von Zuwächsen ausgerichteten Steuerungsinstrumente genügen den Herausforderungen
demographischer Schrumpfungsprozesse nicht mehr. Vielmehr sind Prozesse des Rückbaus, der Stabilisierung, der
Revitalisierung und der qualitativen Entwicklung zu gestalten. Leitbilder und Planungen sollten demographische
Entwicklungen stärker beobachtet werden und steuernd einwirken.
Das Nebeneinander von Wachstums-, Umbau- und Schrumpfungsprozessen verlangt nach flexiblen, auf die jeweilige
Region zugeschnittenen Lösungen. Das hat zur Folge, dass entsprechende Leitbilder auf regionaler und
kommunaler Ebene bearbeitet oder neu formuliert werden müssen, um sie als integrierte regionale Anpassungs- und
Entwicklungsstrategien an den Anforderungen des demographischen Wandels auszurichten.
2 Situation im Land Brandenburg
Das Land Brandenburg nimmt in dieser Entwicklung insofern eine Sonderstellung ein, als dass sich seine
peripheren Regionen des „weiten Metropolenraumes“ (mit über 60 Prozent der Einwohner des Landes) identisch
zu den anderen Ländern in Ostdeutschland entwickeln, während der Raum um Berlin („Berliner Umland“) als
einzige Region in den Neuen Ländern von der Ausstrahlung einer sogenannten „Ankerstadt“, der Hauptstadt Berlin,
in bemerkenswertem Umfang profitiert.
Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung des Landes Brandenburg im Vergleich zu 1990 / Quelle: eigene Auswertungen der Datenbank IFAD
https://ifad-berlin.homepage.t-online.de/index.html (26.07.2023)
Allein aus dem Saldo der natürlichen Bevölkerungsbewegung hätte das Land Brandenburg seit 1993
Bevölkerungsrückgänge von jährlich 10 bis 15 Tausend Einwohnern (EW). Dem entgegen wirkte bis zum
Jahr 2000 die räumliche Bevölkerungsbewegung mit einem positiven Wanderungssaldo von ca. 10 bis 30 Tausend
EW jährlich. In der Gesamtbilanz wuchs somit die Bevölkerung des Landes Brandenburg. Erst im Jahr 2000
kam es zu einem Ausgleich von positivem Wanderungssaldo und negativem Saldo der natürlichen Bewegung
(Sterbeüberschuss) und damit zu einem Stillstand in der Bevölkerungsentwicklung. Seit 2001 ist der räumliche
Saldo gering und die Gesamtentwicklung wird vom negativen natürlichen Saldo bestimmt - mit der Konsequenz
des deutlichen Rückgangs der Anzahl der EW seit dem Jahre 2000, ab 2015 unterbrochen durch leichte Zuwächse
aus der Zuwanderung.
Die Prognosen für Brandenburg bis 2030 (LBV 2018) gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung bis 2030 um
ca. 60.000 EW auf 2.495 Mio., im längeren Zeitrahmen bis 2060 gar bis auf 2.222 Mio. EW verringern wird.
Abb. 3: Bevölkerungsvorausschätzung 2030 gegenüber 2010 für
die Mittelbereiche / Quelle: LBV 2018, Anlage 2, Blatt 3
Dabei ist in den ländlichen Gebieten („weite Metropolregion“) eine massive Schrumpfung (von 2016 bis
2030 um ca. 127.300 EW - das entspricht -8,3 %) zu erwarten, während im Berliner Umland mittelfristig von
einem Zuwachs um 83.800 EW (das sind +8,7 %) auszugehen ist. Allerdings wird das Potenzial von
Bevölkerungszuwachs aus der Hauptstadt die grundlegenden Entwicklungen nur noch eine begrenzte Zeit
ausgleichen können.
Damit werden sich in Zukunft die soziodemographischen Unterschiede zwischen dem Berliner Umland und
dem weiteren Metropolenraum stetig weiter vergrößern.
3 Fallbeispiel: Der Landkreis Uckermark
Der Landkreis Uckermark steht exemplarisch für die Entwicklung im „weiten Metropolenraum“ des Landes
Brandenburg (definiert nach dem Landesentwicklungsplan Hauptstadtregion (LEP HR 2019). Er hat mit ca.
120.000 EW die höchste Einwohnerzahl der nicht an Berlin grenzenden Landkreise und gleichzeitig (gemeinsam
mit dem Landkreis Prignitz) mit 39 EW pro km² die geringste Bevölkerungsdichte aller Landkreise in Brandenburg.
(Der „weite Metropolenraum“ hat eine Bevölkerungsdichte von 57 EW je km²).
Der starke Bevölkerungsrückgang, resultierend aus negativem natürlichem Bevölkerungssaldo
(Sterbefallüberschuss) und hohen Abwanderungszahlen lässt sich bereits seit vielen Jahren beobachten.
Infolgedessen kann der Landkreis Uckermark als Musterbeispiel des komplexen demographischen Alterungsprozesses
ländlicher Regionen angesehen werden.
Seit dem Jahr 1990 war ein Bevölkerungsrückgang von etwa 28 Prozent zu verzeichnen. Das ist ein außergewöhnlicher
Wert. der sich allerdings so oder ähnlich in den meisten ländlichen peripheren Räumen der Neuen Länder
wiederfinden lässt.
Bei der Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung und Prognose (LBV 2018) wird deutlich, dass sich der
Trend der Bevölkerungsschrumpfung weiter fortsetzen wird. Bis zum Jahr 2030 wird die Bevölkerung der
Region Uckermark um weitere 17 Prozent zurückgehen. Der leichte Zuwachs in den Jahren 2015/16 als Folge der
gesteigerten Zuwanderung war nur eine vorübergehende Unterbrechung des Trends, der sich ab 2017 fortsetzte,
und zeigt überdies, dass internationale Zuwanderungen selbst beachtlicher Größenordnung (2015/16 hatte
Deutschland eine Nettozuwanderung von 1,639 Mio. Menschen) kaum Auswirkungen auf den Gang der
demographischen Wandlungsprozesse auf regionaler Ebene in Ostdeutschland haben.
Die Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung des Landkreises Uckermark steht exemplarisch für
die Veränderungen einer alternden Gesellschaft. Die Nachwuchsgeneration verkleinert sich zunehmend und
gleichermaßen steigt die Anzahl der alten Kohorten stetig an. Anhand der Alten- und Jugendquotienten
lässt sich die veränderte Altersstruktur im Landkreis Uckermark verdeutlichen.
Im Jahr 1993 betrug das Verhältnis von Jugendlichen im Alter von unter 15 Jahren noch beachtliche
41,7 Personen je 100 Personen im berufsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. 25 Jahre später kamen nur
noch 28,8 Jugendliche auf 100 erwerbsfähige Personen. Der Altenquotient hat sich entsprechend konträr
entwickelt. Hier kamen im Jahr 1993 noch lediglich 18,3 über 65-Jährige auf 100 erwerbsfähige Personen.
Im Jahr 2018 waren es dann bereits 48,8 alte Einwohner auf 100 Personen im Alter von 15 bis 65 Jahren.
Die Prognosen zeigen, dass sich die jeweiligen Trends für den Alten- und den Jugendquotienten zukünftig
noch verstärken werden.
Damit steht der Landkreis Uckermark beispielhaft für die vom demographischen Wandel am stärksten betroffenen
ländlichen peripheren Regionen Ostdeutschlands. Deren weitere demographische Entwicklung wird sich durch
politische Intervention nur marginal beeinflussen lassen, gefragt ist ein intelligentes Gestalten von
regional zugeschnittenen Anpassungsstrategien.
¹ Die im Text genannten Daten und Zahlen beruhen auf eigenen Auswertungen der Datenbank IFAD:
https://ifad-berlin.homepage.t-online.de/index.html (26.07.2023)
² https://ifad-berlin.homepage.t-online.de/index.html (06.07.2023)
Literatur
BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2014): Vom demografischen Wandel besonders betroffene Regionen. Ein wichtiges Thema im Kontext der Demografiestrategie. Bonn. = BBSR-Online-Publikation 11/2014.
BMI - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2019): Unser Plan für Deutschland - Gleichwertige Lebensverhältnisse überall. Berlin.
LBV - Landesamt für Bauen und Verkehr Brandenburg (2018): Bevölkerungsvorausberechnung für das Land Brandenburg 2017 bis 2030. Potsdam.
LEP HR - Landesentwicklungsplan Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg (2019): Verordnung über den Landesentwicklungsplan Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg (LEP HR) vom 29.04.2019, in Kraft getreten am 1. Juli 2019.
Statistisches Bundesamt (2019): 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden.
Michel, H. (2017): Im Osten etwas Neues? In: Mayer, T. (Hrsg.): Die transformative Macht der Demographie. Wiesbaden, 331-339.
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FOCUS online Autor Heiko Rehmann, u. a. Dr. Harald Michel
Demografie-Spezialist schlägt Alarm
Die unsichtbare Gefahr: Wie Geburtenrate und Migration unsere Zukunft bestimmen
Schlűsselwőrter:Geburtenrate - Migration - Zuwanderung - Bevölkerungsentwicklung - Folgen des demografischen Wandels
Heiko Rehmann
Demografie-Spezialist schlägt Alarm
Die unsichtbare Gefahr: Wie Geburtenrate und Migration unsere Zukunft bestimmen
Freitag, 31.05.2024, 16:16
In Deutschland leben so viele Menschen wie nie und dennoch bedroht der demografische
Wandel unsere Zukunft ebenso massiv wie der Klimawandel.
Das liegt an einigen oftmals übersehenen Zusammenhängen, weshalb wir die Dynamik und die Folgen der bevorstehenden
Veränderungen häufig falsch einschätzen.
Wir fürchten uns vor dem Falschen!
Immer lauter ruft die Wirtschaft nach Fachkräften und findet sie immer seltener. Doch was wir gerade erleben, ist erst ein
laues Lüftchen im beginnenden Sturm des demografischen Wandels, der langsam aber mächtig heraufzieht. Nach einem kurzen
Zwischenhoch ist die deutsche Geburtenrate in den beiden zurückliegenden Jahren abgestürzt und kündigt damit an, was der
ganzen Welt bevorsteht. Ein Forscherteam der University of Washington berichtet im Fachblatt „The Lancet“, dass bis zum Ende
dieses Jahrhunderts die Bevölkerung in 198 von 204 Ländern der Erde schrumpfen wird.
Zwar leben aktuell so viele Menschen in Deutschland wie nie zuvor in unserer Geschichte. Allerdings ist das
Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre ausschließlich der Zuwanderung zu verdanken und ändert auf lange
Sicht nichts an unseren demografischen Problemen, da es die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung nur vorübergehend
aufhalten, aber nicht auf Dauer stoppen kann. Zudem wird es in Zukunft immer schwieriger werden, unseren Geburtenmangel
durch Zuwanderung zu kompensieren, da immer mehr Länder um immer weniger qualifizierte Zuwanderer konkurrieren werden.
Doch warum fällt uns diese drohende Gefahr meistens überhaupt nicht auf?
Dynamik der Bevölkerungsentwicklung
Demografische Veränderungen können wir im Horizont unseres eigenen Lebens nicht überblicken. Mit einer Beispielrechnung lässt
sich aber leicht verdeutlichen, wie dramatisch sich die Bevölkerungszahl eines Landes innerhalb weniger Generationen verändern kann:
1000 Frauen und 1000 Männer (also 2000 Personen) bekommen bei der aktuellen deutschen Gesamtfruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern
pro Frau 1400 Kinder. Das sind 700 Männer und 700 Frauen. Wenn diese im Schnitt wiederum 1,4 Kinder bekommen, sind das 980 Nachkommen.
Die dritte Generation ist also nur noch halb so groß wie die erste! Die fünfte schrumpft auf ein Viertel, die siebte auf ein Achtel
der Ausgangsgröße.
Über den Gastautor Heiko Rehmann
Heiko Rehmann studierte Philosophie, Germanistik, Vergleichende Religionswissenschaft und Demografie in Tübingen,
Berlin und Edinburgh. Heute arbeitet er als freier Journalist und Gymnasiallehrer in Stuttgart, hält Vorträge und
spricht Podcasts ein. Er untersucht den Einfluss von ideengeschichtlichen und demografischen Entwicklungen auf
unsere heutige Gesellschaft, insbesondere die Themen Freiheit und Verantwortung, Individuum und Gesellschaft, Demografie und Migration.
Da die Zahl potentieller Mütter in jeder neuen Generation geringer ist als in der vorangegangenen und diese wiederum
weniger Kinder bekommen, als zur Bestandserhaltung nötig wären (2,1 Kinder pro Frau), schrumpft die Bevölkerung von
Generation zu Generation immer schneller, denn Frauen die nie geboren wurden, können keine Kinder bekommen.
Ab einem bestimmten Punkt wird diese exponentielle Bevölkerungsschrumpfung nicht mehr zu stoppen sein, weil es nicht
mehr genügend potentielle Mütter geben wird, um eine Wende einzuleiten. Wir werden dann in einer unaufhaltsamen
Abwärtsspirale gefangen sein.
„In zwei Generationen ist die Sache gegessen“, sagt Harald Michel, Leiter des Instituts für angewandte Demographie in
Berlin. „Eine Änderung ist dann nicht mehr möglich.“
Solange der Berg der Babyboomer das klein gewordene Häuflein zukünftiger Eltern verdeckt, fällt uns die demografische
Katastrophe noch nicht auf. Diese braucht Jahrzehnte, um sichtbar zu werden, ist dann aber kaum noch zu korrigieren.
Bekämen wir von morgen an wieder 2,1 Kinder pro Frau, so würde die Bevölkerung noch ein halbes Jahrhundert lang
schrumpfen und sich erst dann bei rund 40 Millionen Einwohnern stabilisieren, denn die Geburtenrate hängt von der
Gesamtfruchtbarkeitsrate (total fertility rate kurz TFR) und der Anzahl gebärfähiger Frauen ab.
Solange diese schrumpft, schrumpft auch die absolute Zahl an Geburten, selbst wenn die Gesamtfruchtbarkeitsrate
wieder steigt. Die Geburtenrate gibt die Zahl der Geburten pro 1000 Einwohner pro Jahr an, während die
Gesamtfruchtbarkeitsrate aussagt, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn sie
sich so verhalten würde, wie die Frauen eines bestimmten Jahres. Im Jahr 2023 lag diese in Deutschland
bei 1,36 Kindern pro Frau.
Mathematik ist nicht bestechlich
Häufig hört man den Einwand: „Aber Prognosen sind doch immer unsicher!“ Demografen erstellen jedoch
keine Prognosen, sondern Vorausberechnungen: Alle Frauen, die in den kommenden 15 Jahren potentiell Kinder bekommen
können, sind schon geboren. Diese Zahl kennen wir also exakt. Wenn wir die seit den siebziger Jahren ziemlich
stabile Gesamtfruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern pro Frau zugrunde legen, können wir auch die Zahl ihrer Kinder
berechnen. Wenn diese genau so wenig Kinder bekommen, wovon bislang alle Fachleute ausgehen,
lässt sich auch die Größe der nächsten Generationen exakt berechnen.
Solche Rechnungen führen zu den sichersten Voraussagen, die wir überhaupt machen können: Eine Vorausberechnung
der UNO konnte im Jahr 1958 die Weltbevölkerung des Jahres 2000 mit einer Abweichung von 3,5 Prozent bestimmen!
Folgen des demografischen Wandels
Wenn ab 2025 die Babyboomer der 1960-er Jahre das Rentenalter erreichen, geraten die Sozialsysteme in Schieflage,
weil immer weniger Steuerzahler immer mehr Rentner finanzieren müssen. Früher oder später werden sie kollabieren.
Schon heute bezuschussen wir die gesetzliche Rentenversicherung jährlich mit mehr als 100 Milliarden Euro aus
Steuermitteln. Geld, das heutige Rentner verzehren, soll in der Zukunft von Kindern zurückgezahlt werden, die nie
geboren wurden! Dabei lebt die Rentenversicherung von der Hand in den Mund: Was wir heute einzahlen, landet morgen
auf dem Konto eines Ruheständlers.
Wir täuschen uns, wenn wir glauben, mit unseren Beiträgen ein Polster für die eigene Zukunft anzulegen. Wenn wir
nicht genügend zukünftige Beitragszahler aufziehen, kann der Generationenvertrag nicht funktionieren. Dazu kommt
noch der Schuldenberg aus den gegenwärtigen fetten Jahren, der mit der Bevölkerung natürlich nicht mitschrumpfen
wird. Zu Recht warnte der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Heinsohn davor, dass Deutschland seine wenigen
jungen Talente steuerlich überfordern und letzten Endes ins Ausland treiben könnte.
Aber auch wenn wir privat sparen, wird uns das weniger helfen als wir glauben, denn wir können nicht heute die
Brötchen backen, die wir morgen essen wollen und ein dickes Bankkonto wird keine Senioren pflegen. Je weniger
Arbeitskräfte es in Zukunft geben wird, desto teurer werden sich diese bezahlen lassen. Dieser Entwicklung
hinterher zu sparen, ist ein Wettlauf, den wir nicht gewinnen können. Die wachsenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt
werden wir mit Geld nicht stopfen können. Wer an der einen Stelle abgeworben wird, fehlt dafür anderswo.
Demografie lässt sich nicht überlisten. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft.
Darüber hinaus verursacht der demografische Wandel noch weitere Probleme:
Die Immobilienmärkte und die Infrastruktur unseres Landes sind für die gegenwärtige Anzahl an Bewohnern ausgelegt. Die bevorstehende Bevölkerungsimplosion wird Billionenwerte nutzlos machen, deren Rückbau weitaus schwieriger zu organisieren sein wird, als es der Aufbau war. Zudem wird unsere Innovationskraft geringer werden. Wer alt ist, geht meist keine neuen Risiken mehr ein. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen drohen zusammenzubrechen, was allein bis zum Jahr 2030 Wohlstandsverluste von 630 Milliarden Euro nach sich ziehen könnte, wie die Beratungsgesellschaft Korn-Ferry berechnet hat.
Warum Zuwanderung keine Lösung ist
Man hört es an diesem Punkt fast reflexhaft: „Ja, aber wir können doch Einwanderer holen!“
Dies ist auch genau das Ziel, das die Bundesregierung mit der 2012 beschlossenen Demografiestrategie und dem
neuen Einwanderungsgesetz verfolgt. Tatsächlich wären wir ohne die Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte
schon heute nur noch 63 Millionen, wie das Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung vom 1.8.2017
berichtet. Was bisher noch leidlich funktioniert hat, wird in Zukunft jedoch neue Probleme schaffen.
Um die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren konstant zu halten, müssten bis 2050 24 Millionen
Menschen nach Deutschland einwandern, wie die Vereinten Nationen im Jahr 2001 in ihrer Studie „replacement migration“
gezeigt haben. Aktuell fordert die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer 1,5 Millionen Einwanderer pro Jahr,
um den Fachkräftemangel zu kompensieren.
Einwanderer aus Europa, die eine hohe Qualifikation und eine ähnliche Mentalität mitbringen und sich meist
problemlos integrieren, wird es in Zukunft allerdings immer weniger geben, da alle unsere Nachbarländer
dieselben Probleme haben.
Wir werden Zuwanderer vor allem aus dem arabischen und afrikanischen Raum gewinnen können, da nur hier die
Bevölkerungen noch bis zur Mitte des Jahrhunderts wachsen. Diese sind allerdings in den wenigsten Fällen
qualifiziert genug für den deutschen Arbeitsmarkt. Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme wäre die Folge,
was unsere Probleme nicht lösen sondern sogar noch weiter verschärfen würde. Und in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts wird es schwierig werden, überhaupt noch Zuwanderer zu gewinnen, da dann fast alle Staaten der
Welt mit den selben Problemen kämpfen werden, denn mittlerweile lässt sich beobachten, dass die meisten
Länder die gesellschaftliche und demografische Entwicklung Europas im Zeitraffer nachvollziehen.
Selbst in etlichen afrikanischen Ländern sind die Geburtenraten in den vergangenen Jahren regelrecht
abgestürzt. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird nicht mehr die Bevölkerungsexplosion das
bestimmende Thema sein sondern der weltweite Mangel an Arbeitskräften.
Doch selbst wenn es uns gelänge, genügend qualifizierte Zuwanderer anzuwerben, könnten wir damit das
demografische Problem nicht lösen, denn wir müssten die Zuwanderung aufgrund der exponentiellen
Bevölkerungsschrumpfung von Generation zu Generation immer weiter steigern, ohne dass wir damit am zugrunde
liegenden Problem der viel zu niedrigen Gesamtfruchtbarkeitsrate etwas ändern würden. Diese liegt nämlich
bei qualifizierten Zuwanderern kaum höher als bei Einheimischen. Daher kann eine qualifizierte Zuwanderung
zwar vorübergehend die Löcher am Arbeitsmarkt stopfen, eine nachhaltige Lösung ist das jedoch nicht.
Zuwanderung als situative Lösung eines strukturellen Problems ist daher so sinnvoll wie der Versuch, ein
Fass voller Löcher mit Wasser zu füllen. Außerdem würde es immer schwieriger werden, unser Bildungsniveau
zu halten, da auch die Kinder gebildeter Einwanderer möglichst gut Deutsch lernen müssen, wenn sie eine
höhere Bildung erreichen wollen. Das wird jedoch um so schwieriger, je weniger Muttersprachler in ihrem
Umfeld leben. Ein sinkendes Bildungsniveau wäre jedoch fatal.
Zudem ist es keineswegs sicher, dass einer erfolgreichen Integration in den Arbeitsmarkt auch eine erfolgreiche
Integration in die Gesellschaft und Kultur folgt. Fachliche Qualifikation zieht nicht automatisch eine
westliche Lebenshaltung nach sich.
Da die Einstellungen und Werte eines Menschen in erster Linie von den Eltern geprägt und von Generation
zu Generation in den Familien weitergegeben werden, hat der Staat viel weniger Einfluss auf die zukünftige
Entwicklung der Zuwanderer als er denkt. Wir können entscheiden, wer und wie viele kommen. Was aus ihnen
und ihren Kindern wird, liegt nur noch begrenzt in unserer Hand.
Auch kann niemand vorhersagen, ob und wie das Zusammenleben in einer immer vielfältigeren und sich permanent
wandelnden Gesellschaft funktionieren wird.
Daher geht jede Gesellschaft, die Zuwanderer in relevanten Größenordnungen aufnimmt, ein Risiko ein.
Die Regeln des Zusammenlebens müssten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer wieder neu
ausgehandelt werden. Das soziale Vertrauen, ohne das unser Zusammenleben nicht funktioniert, verringert
sich mit zunehmender ethnischer Diversität, wie der Soziologe Robert Putnam in einer vielbeachteten
Studie nachgewiesen hat. Gesellschaftliche Instabilität und Konflikte könnten die Folge sein.
Wenn die Gesamtfruchtbarkeitsrate auf dem gegenwärtigen Niveau bleibt und wenn wir das Problem nur durch
Zuwanderung zu lösen versuchen, wird es ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Mehrheitsgesellschaft mehr
geben, in die sich die Ankommenden integrieren könnten. Zwar werden die Einwanderer im Lauf der Zeit
zu Deutschen und können den Neuankömmlingen der nächsten Generation bei der Integration helfen.
Da Integration aber Zeit braucht und da sich die genannten Prozesse immer mehr beschleunigen, droht der
Faden der kulturellen Überlieferung abzureißen. In zwei bis drei Generationen könnte Deutschland zu
einem Vielvölkerstaat werden, in dem es kein Band mehr gibt, das die verschiedenen Gruppen zusammenhält,
wie der Demograf Herwig Birg befürchtet. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, ob dieses irreversible
Experiment gelingen wird.
„Kulturell und sozial wird das nicht machbar sein“, ist sich Harald Michel jedoch sicher.
Beispielrechnung für je 1000 Männer und 1000 Frauen: Ab der dritten Generation müssten bei einer
konstanten Fruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern mehr Zuwanderer und deren Nachfahren als „Biodeutsche“ in Deutschland
leben, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten.
Was zu tun ist
Wir können den Bevölkerungsrückgang eine Zeit lang kompensieren, indem wir die Produktivität steigern,
sowie die Frauenerwerbsquote und das Renteneintrittsalter erhöhen. Diese Maßnahmen werden in absehbarer Zeit
allerdings weitgehend ausgereizt sein. Der Ökonom Thomas Straubhaar sieht in der künstlichen Intelligenz
und der zunehmenden Roboterisierung eine weitere Lösungsmöglichkeit, übersieht dabei jedoch, dass Maschinen
keine Steuern bezahlen und auch keine gesellschaftlichen Strukturen aufrechterhalten können. Oder möchten
Sie Ihre Kinder von Computern unterrichten lassen und im Alter von Robotern betreut werden?
Somit bleibt nur noch die Möglichkeit, die Zuwanderung zu steigern, oder die Geburtenrate zu erhöhen. Dass
letzteres möglich ist, haben schon etliche Länder bewiesen. Frankreich und die skandinavischen Länder
erreichen bereits seit Jahrzehnten konstant hohe Geburtenraten durch eine gute Kinderbetreuung und durch
gezielte steuerliche Anreize, die vor allem die Geburt zweiter und dritter Kinder fördern.
Unsere Probleme hängen offensichtlich mit der Struktur unserer Gesellschaft zusammen und sind durch
Zuwanderung nicht dauerhaft zu lösen, da diese nur Lücken stopft, ohne die Ursachen des Defizits zu
beheben. Daher müssen wir die Strukturen verändern, die für die niedrige Geburtenrate verantwortlich
sind. Auch wenn das nicht einfach sein wird, müssen wir es zumindest versuchen, denn schließlich geht
es um unsere Zukunft.
Familie und Beruf
Eine dieser dysfunktionalen Strukturen ist die Konstruktion unseres Generationenvertrages, die schon
mehrfach vom Bundesverfassungsgericht gerügt wurde: Eltern investieren etwa 175.000 Euro mehr in jedes
Kind, als sie über Steuererleichterungen und Familienleistungen wieder zurückbekommen, wie die Verbraucherzentrale
Bayern errechnet hat. Da Kinder aber über ihre Abgaben das gesamte Sozialsystem mitfinanzieren, wenn sie
erwachsen sind, profitiert momentan derjenige am meisten von Kindern, der keine hat. Nicht einmal die
SPD thematisiert diese selbstzerstörerische Ungerechtigkeit.
Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass Frauen und Männer in modernen Gesellschaften in einen Zwiespalt geraten,
den traditionelle Gesellschaften fast gar nicht kennen: Das Leben mit Kindern steht anderen
Lebensentwürfen gegenüber und schließt diese teilweise aus. Beruf und Kind lassen sich oft nur schwer
unter einen Hut bringen. Den Verzicht auf das Einkommen einer Ärztin oder Juristen, also die sogenannten
Opportunitätskosten, kann auch das höchste Kindergeld nicht ausgleichen und es kann Frauen auch nicht den
Sinn und die Erfüllung geben, die ein Beruf mit sich bringt. Natürlich bringen auch Kinder eine Erfüllung,
die der Beruf wiederum nicht geben kann, aber oftmals reicht das eben nicht aus, um sich für
Kinder zu entscheiden.
Martin Bujard, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB), hat in seiner Studie
„Familienpolitik und Geburtenrate“ nachgewiesen, dass alle Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf verbessern, einen signifikanten Einfluss auf die Geburtenrate haben - wie etwa Teilzeitangebote
und eine gute Betreuungsinfrastruktur für Kinder. Insbesondere Kita Plätze für unter Dreijährige wirken
sich positiv aus. Das ist auch nicht überraschend. Verringert sich doch gerade dadurch der Zwiespalt zwischen
„Kind und Karriere“, was auch dazu beiträgt, die Opportunitätskosten von Kindern zu senken.
Noch hilfreicher wären in vielen Fällen flexiblere Arbeitsstrukturen im Sinne „atmender Lebensläufe“.
Besonders geeignet dürfte dazu das Optionszeitenmodell sein, das die Sozial- und Rechtswissenschaftler Karin
Jurczyk und Ulrich Mückenberger im März 2020 vorgelegt haben. Jedem Arbeitnehmer würde demnach ein Zeitbudget
von 9 Jahren zur Verfügung gestellt. Davon wären 6 Jahre für die Kinderbetreuung und die Sorgearbeit für
pflegebedürftige Angehörige vorgesehen, 2 Jahre für Weiterbildungen und 1 Jahr für eine persönliche Auszeit.
Für jedes weitere Kind würde ein weiteres Jahr dazukommen, da bei nicht allzu großem zeitlichem Abstand mehrere
Kinder gleichzeitig betreut werden können.
Diese „Optionszeiten“ könnten durch „Ziehungsrechte“ je nach Bedarf flexibel über den Lebenslauf hinweg
in Anspruch genommen werden und zwar entweder in Form einer Unterbrechung der Erwerbsarbeit oder als
Teilzeit, wodurch sich die genannten Zeiten entsprechend verlängern würden. Was heute in Form einzelner
Rechtsansprüche bereits teilweise möglich ist, jedoch immer noch die Ausnahme von der Regel des
„Normalarbeitsverhältnisses“ darstellt, würde durch dieses Modell zur Norm. Jeder Arbeitnehmer
hätte einen Rechtsanspruch auf seine Optionszeiten, genauso wie er auch Rückkehr- und Entgeltrechte
hätte. Bei den Care Tätigkeiten (Kinder- und Altenpflege sowie Gemeinwohlarbeiten) würden diese aus
Steuermitteln finanziert, Weiterbildungszeiten müssten die Unternehmen über einen Pool finanzieren,
während persönliche Auszeiten weitgehend aus eigenen Rücklagen finanziert werden sollten.
Die „rush hour des Lebens“, die so vielen Eltern zu schaffen macht, könnten wir durch das
Optionszeitenmodell entzerren. „Vielleicht würden sich dann mehr Frauen und Männer trauen, ihre
Kinderwünsche zu realisieren“, sagt Karin Jurczyk.
Das könnte noch erleichtert werden durch unterstützende Rahmenbedingungen wie Betriebskitas, home office,
Steuerfreiheit ab dem dritten Kind, eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rentenhöhe, durch öffentliche
Dienste, die Eltern so weit wie möglich zeitlich entlasten, und durch einen Umbau der Gesellschaft zu mehr
Kinderfreundlichkeit. „Entweder werden wir irgendwann keine Kinder mehr haben, oder die Gesellschaft geht
besser auf die Bedürfnisse von Eltern ein“, sagt Karin Jurczyk.
Bislang ist es jedoch so, dass längere Auszeiten im Beruf meist zu einem Karriereknick führen, was der
Hauptgrund für das niedrigere Lebenseinkommen von Frauen ist. Hier wären die Arbeitgeber gefordert Programme
zu entwickeln, mit denen Frauen und Männer auch während der Familienzeit den Kontakt zum Betrieb und gleichzeitig
ihr Fachwissen auf dem aktuellen Stand halten können. „In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Das müssen sich
auch die Arbeitgeber fragen“, mahnt Jurczyk.
Das mag nicht einfach sein und manchem Arbeitgeber nicht gefallen, aber wenn wir nichts tun, wird die
Zukunft unseres Landes und Europas düster und das ganz besonders für diejenigen, die keine eigenen
Kinder haben.
(Mitarbeit: Dr. Konrad Schmidt)
„corrigenda online“
Autor Lukas Steinwandter, u. a.
Dr. Harald Michel
Politik, Verteidigung, Kultur, Zusammenleben
It's the demography, stupid
Schlűsselwőrter:Geburtenrate — ethnische Zusammensetzung — Migration — Bevölkerungsentwicklung — Folgen des demografischen Wandels
Lukas Steinwandter
Politik, Verteidigung, Kultur, Zusammenleben
It's the demography, stupid
20.07.2024 — 07:38
Noch nie in der Geschichte Europas brachen die Geburtenraten derart ein wie heute,
während die Lebenserwartung stieg. Nahezu alle Probleme, mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten konfrontiert werden,
hängen damit zusammen. Corrigenda leuchtet die schwarzen Flecken der Demografie-Debatte aus.
Demographischer Wandel / ©IMAGO / Rupert Oberhäuser / Corrigenda-Montage
Ob wir es wollen oder nicht, wir alle sind Protagonisten und Zeugen einer noch nie dagewesenen Entwicklung: Europas
Bevölkerung schrumpft rapide, gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Dieser demografische Wandel sei kein
gewöhnlicher Strukturwandel, betont der Soziologe Harald Michel, sondern ein „Megatrend“, der uns noch
mindestens ein Jahrhundert lang beschäftigen wird. Der Berliner Humboldt-Uni-Dozent betont gegenüber
Corrigenda: „Er erfasst sämtliche Lebensbereiche und wird die betroffenen Gesellschaften in noch
nicht erlebten Maßen verändern.“
Und er mahnt: „Es gibt deshalb keine fertigen und erprobten Rezepte, wie die europäischen Gesellschaften
angemessen auf diese Entwicklung reagieren sollten. Die mit dem demografischen Wandel verbundenen Veränderungen
stellen die europäische Bevölkerung vor vollkommen neuartige und sehr komplexe Herausforderungen.“
Inhaltsverzeichnis
1) So kraftvoll sind Bevölkerungsentwicklungen
2) Alterung und die vier Dimensionen des demografischen Wandels
3) Die ethnische Zusammensetzung verändert sich
4) Die räumliche Verteilung
5) Die Folgen
6) Politik
7) Religion
8) Gesellschaftliches Zusammenleben
9) Kultur
10) Innovation und Verteidigung
11) Fazit
Klingt übertrieben? Ja, doch das Gesagte ist wahr, vielleicht sogar untertrieben, wenn man sich auf die verblüffende Welt der Demografie einlässt. Im Unterschied zu Corona-Modellierungen schätzen Demografen nicht nur, sie sagen voraus. Warum die Vorhersagen so genau sind, liegt daran, dass man anhand der zusammengefassten Geburtenziffern von heute ziemlich exakt berechnen kann, wie viele Kinder die heute geborenen Kinder später zeugen beziehungsweise zur Welt bringen werden.
1) So kraftvoll sind Bevölkerungsentwicklungen (zurück zur Inhaltsangabe)
Und diese Bevölkerungsentwicklung verläuft nicht linear, sondern exponentiell. Das wiederum liegt an den sich
verändernden Kohorten der Frauen. Ein Beispiel, mit welcher Wucht demografische Niedergänge sich ausprägen können, zeigt
folgende Grafik:
Demografischer Wandel: So schnell schrumpft eine Bevölkerung bei einer
Geburtenziffer von 1,4 / © Corrigenda
Das Bild zeigt eine Population von 1.000 Männern und 1.000 Frauen bei einer Geburtenziffer von 1,4 Kindern
pro Frau. Schon in der zweiten Generation sind es nur noch 700 Frauen, dann 490, dann 343 — und nach rund
200 Jahren ist diese Population dezimiert auf weniger als 100 Frauen. Natürlich verändern sich die
Geburtenziffern im Laufe der Zeit, bleiben nicht exakt konstant wie im Beispiel, doch mit welcher Vehemenz
sie auf eine Bevölkerung durchschlagen, wird an diesem Beispiel deutlich.
Freilich gilt dies auch umgekehrt, bei einer hohen Kinderzahl. Die nachstehende Grafik zeigt eine Population
von 100 Männern und 100 Frauen bei einer Geburtenziffer von 3 Kindern pro Frau. Nach vier Generationen, also
nach rund 120 Jahren, hat sich die Bevölkerung verfünffacht, nach 200 Jahren mehr als verzehnfacht. Doch von
einer solchen Kinderzahl sind wir weit entfernt: Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden erst diese Woche
vermeldet hat, sank die Zahl der Kinder je deutscher Frau 2023 auf einen Wert von 1,26.
So stark wächst eine Bevölkerung mit einer Geburtenziffer von 3 / © Corrigenda
2) Alterung und die vier Dimensionen des demografischen Wandels (zurück zur Inhaltsangabe)
Laut dem Soziologen Harald Michel kann der demografische Wandel in vier Bereiche aufgeteilt werden: der quantitativen
Veränderung der Bevölkerungszahl, der Veränderung der Altersstruktur bzw. der Verschiebung der Proportionen, der
Veränderung der soziokulturellen Struktur und der Veränderung der räumlichen Verteilung der Bevölkerung.
Seit 1972 sterben in Deutschland mehr Menschen als geboren werden. Während das Durchschnittsalter 1990 noch
bei 38,3 Jahren lag, stieg dieser Wert bis 2022 auf ein Median-Alter von 45 Jahren an. Deutschland hat damit
nach Japan die älteste Bevölkerung aller großen Industrieländer. Das Median-Alter gibt den Mittelpunkt an, bei
dem die Hälfte jünger, die Hälfte älter ist. Die Bevölkerung Deutschlands ist fast doppelt so alt wie der
Weltdurchschnitt.
Doch das Durchschnittsalter ist die eine Sache, die andere sind die Proportionen. Eine wichtige demografische
Kennziffer ist der Altenquotient. Er gibt an, wie viele Personen ab 65 Jahren auf 100 Personen der Gruppe
zwischen 20 und 64 Jahren treffen. In Deutschland lag der Altenquotient 2023 bei 37, das heißt auf 100
20- bis 64-Jährige kamen 37 über 65-Jährige. Bis 2070 wird sich dieser Wert laut dem Statistischen Bundesamt
dramatisch verschieben: auf 100 20- bis 64-Jährige kommen dann 55 über 65-Jährige.
© Statistisches Bundesamt
Als Konrad Adenauer 1963 das Kanzleramt verließ, waren zwölf Prozent der Menschen in Deutschland über 65 Jahre
alt. Als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, waren es 16 Prozent. Als Angela Merkel 2021 als Regierungschefin
aufhörte, waren es 22 Prozent. Die Entwicklung zeigt die Dynamik der Alterung: Zunächst nimmt der Anteil
der Alten nur langsam zu, schließlich immer schneller. Auf dem Land ist das schon jetzt bemerkbar: Grauhaarige
prägen das Dorfbild, und Frauen mit Kinderwagen sind eine Seltenheit.
Noch schlimmer als Deutschland wird es übrigens osteuropäische Länder treffen. In Litauen und Polen liegt
2070 dann der Altenquotient bei 73 beziehungsweise 64.
Die „Unterjüngung“ (Ursula Lehr) der Bevölkerung, also der Mangel an Kindern, führt neben der Geschlechter- und
Beziehungskrise dazu, dass sich das Zusammenleben verändert. Wie das Statistische Bundesamt vor kurzem
mitteilte, lebte 2023 jeder Fünfte in Deutschland allein. Der Anteil lag über dem EU-Durchschnitt von 16 Prozent.
3) Die ethnische Zusammensetzung verändert sich (zurück zur Inhaltsangabe)
Besonders drastisch, speziell in Deutschland, fallen die soziokulturellen Veränderungen auf. Ihre Folgen
lassen sich nur erahnen. Die Zahlen sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Auf den Punkt gebracht hat
das Thilo Sarrazin. Laut seinen Berechnungen wird 2070 nur noch jeder fünfte in Deutschland geborene
Mensch einen ethnisch deutschen Hintergrund haben.
Auf Corrigenda-Nachfrage legte der Volkswirt seine Parameter offen, die ihn zu diesem Ergebnis führten:
„Laut Mikrozensus 2023 betrug der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei den unter 15-jährigen 2022 bereits 41,5 Prozent. Da die Geburtenhäufigkeit bei Frauen mit Migrationshintergrund deutlich höher ist, schätze ich, dass gegenwärtig etwa 50 Prozent der Geburten in Deutschland auf Frauen mit Migrationshintergrund entfallen.“
Was zu tun ist
Wir können den Bevölkerungsrückgang eine Zeit lang kompensieren, indem wir die Produktivität steigern,
sowie die Frauenerwerbsquote und das Renteneintrittsalter erhöhen. Diese Maßnahmen werden in absehbarer Zeit
allerdings weitgehend ausgereizt sein. Der Ökonom Thomas Straubhaar sieht in der künstlichen Intelligenz
und der zunehmenden Roboterisierung eine weitere Lösungsmöglichkeit, übersieht dabei jedoch, dass Maschinen
keine Steuern bezahlen und auch keine gesellschaftlichen Strukturen aufrechterhalten können. Oder möchten
Sie Ihre Kinder von Computern unterrichten lassen und im Alter von Robotern betreut werden?
Somit bleibt nur noch die Möglichkeit, die Zuwanderung zu steigern, oder die Geburtenrate zu erhöhen. Dass
letzteres möglich ist, haben schon etliche Länder bewiesen. Frankreich und die skandinavischen Länder
erreichen bereits seit Jahrzehnten konstant hohe Geburtenraten durch eine gute Kinderbetreuung und durch
gezielte steuerliche Anreize, die vor allem die Geburt zweiter und dritter Kinder fördern.
Unsere Probleme hängen offensichtlich mit der Struktur unserer Gesellschaft zusammen und sind durch
Zuwanderung nicht dauerhaft zu lösen, da diese nur Lücken stopft, ohne die Ursachen des Defizits zu
beheben. Daher müssen wir die Strukturen verändern, die für die niedrige Geburtenrate verantwortlich
sind. Auch wenn das nicht einfach sein wird, müssen wir es zumindest versuchen, denn schließlich geht
es um unsere Zukunft.
Zu bedenken gilt: Laut amtlicher Definition hat einen Migrationshintergrund, wer selbst im Ausland geboren ist, oder
der ein Elternteil hat, das nicht in Deutschland zur Welt gekommen ist. Wenn allerdings schon die Großeltern in Deutschland
zur Welt kommen, haben deren Enkel für die amtliche Statistik keinen Migrationshintergrund mehr.
Der frühere SPD-Politiker und ehemalige Berliner Finanzsenator resümiert:
„Das Sinken des Anteils der ethnischen Deutschen unter den Geburten setzt sich von Jahr zu Jahr dynamisch fort, weil
• | die Deutschen jedes Jahr rund ein Drittel weniger Kinder haben, als zur Bestanderhaltung notwendig wäre, |
• | die Geburtenrate der Frauen mit Migrationshintergrund deutlich höher ist, |
• | die anhaltend hohe Einwanderung von jährlich 400.000 bis 500.000 in erster Linie auf junge und jüngere Menschen entfällt, die in Deutschland alsbald Familien gründen bzw. ihre Kinder im Rahmen des Familiennachzugs nachholen. |
Insofern halte ich es für wahrscheinlich, dass im Jahr 2070 der Anteil der ethnischen Deutschen an den Geburten eher unter als über 20 Prozent liegt.“
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nach Kreisen / © demografie-europa.eu
4) Die räumliche Verteilung (zurück zur Inhaltsangabe)
Hinsichtlich der räumlichen Verteilung der Bevölkerung hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(BBSR) vor kurzem eine neue Studie präsentiert. Demnach wird die Bevölkerung aufgrund der hohen Zuwanderung bis
2045 um 800.000 Personen anwachsen. Jedoch wird die Entwicklung von einer starken Landflucht geprägt sein.
„Während wirtschaftsstarke Großstädte und ihr Umland sowie zahlreiche ländliche Regionen insbesondere in Bayern
und Baden-Württemberg weiterwachsen, verringert sich die Bevölkerungszahl in strukturschwachen Gegenden abseits
der Metropolen weiter“, schreiben die Experten vom BBSR. „Die Landkreise Erzgebirgskreis (Sachsen), Greiz
(Thüringen) und Mansfeld-Südharz (Sachsen-Anhalt) büßen bis 2045 laut Prognose mehr als ein
Fünftel ihrer Bevölkerung ein.“
Die Forscher werteten auch die künftige Altersstruktur in den verschiedenen Regionen aus. „In Regionen mit stark
rückläufigen Bevölkerungszahlen wird das Durchschnittsalter aber überdurchschnittlich stark ansteigen.“ 2045
werden demnach die Menschen in den Landkreisen Vorpommern-Rügen (Mecklenburg-Vorpommern), Mansfeld-Südharz
(Sachsen-Anhalt), Altenburger Land (Thüringen), Greiz (Thüringen) und Spree-Neiße (Brandenburg)
im Durchschnitt älter als 50 Jahre sein.
5) Die Folgen (zurück zur Inhaltsangabe)
Welche Folgen aber haben all diese Entwicklungen auf die Gesellschaft? Während Volkswirte und Demografen — damals gab
es noch entsprechende Professuren, heute keine einzige mehr — schon in den 1990ern vor diesem demografischen Wandel
gewarnt hatten (und ignoriert wurden), setzt seit wenigen Jahren immerhin in puncto Ökonomie ein Umdenken ein. Wer
bezahlt die Rente? Wo sind die Fachkräfte? Wer finanziert den Sozialstaat? Diese Fragen werden nun immerhin diskutiert.
Wir wollen uns deshalb auf das konzentrieren, was woanders noch nicht oder nur randständig betrachtet wird: Wie
verändert sich der Einzelne, wie verändert sich das Zusammenleben in einer stark schrumpfenden Gesellschaft?
6) Politik (zurück zur Inhaltsangabe)
Ein Rentner hat in der Regel andere Erwartungen an die Politik als ein 16-Jähriger. In einer Demokratie bestimmt
das Volk über seine Repräsentanten, und weil jede Stimme gleich viel wert ist, hat die Zusammensetzung des Demos
(partei-)politische Auswirkungen. Bei der EU-Parlamentswahl in diesem Sommer konnte man dies gut beobachten. Von
den 60,9 Millionen deutschen Wahlberechtigten waren 8,8 Millionen zwischen 16 und 29 Jahre alt, was einem Anteil
von 14,5 Prozent entspricht. Die Gruppe der über 65-Jährigen machte mit 18,1 Millionen anteilsmäßig jedoch mehr
als doppelt so viel aus (29,7 Prozent). Ältere wählten weit überdurchschnittlich Union und SPD. Die AfD oder
kleinere linke Parteien erhielten von ihnen unterdurchschnittlich viele Stimmen.
Auch die ethnische Zusammensetzung sorgt für politische Umbrüche. Die Erdoğan-nahe Partei „Demokratische Allianz
für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA), die ein „positiveres Bild des Islam“ fördern möchte, schnitt in mehreren
Duisburger Stimmbezirken als stärkste Kraft ab. Auch in Gelsenkirchen erzielte sie Achtungserfolge. Zwar war
die Wahlbeteiligung in diesen Bezirken gering, doch aufgrund der oben gezeigten dynamischen Bevölkerungsentwicklungen
kann aus Ausnahmen schnell ein Regelzustand werden.
Bei der Kommunalwahl in England setzten sich mehrere moslemische Kandidaten durch, obwohl diese keiner der großen
Parteien angehören. Nach der wenige Wochen später stattfindenden Parlamentswahl ging ein Video des siegreichen
Labour-Kandidaten Adnan Hussain viral, der sich in einem Saal voller Moslems euphorisch zeigte: „Wir werden
unsere Stimme für Gaza erheben!
Wir werden weiterkämpfen, bis zum Tod, Inshallah!“
Selbstverständlich werden sich neue ethnische Gruppen auch ihren Platz und ihre Privilegien nehmen, die sie
demokratisch erstritten haben; fallweise auch mit Gewalt. Straßennamen, Geschäfte, religiöse Stätten, ja ganze
Straßenbilder werden sich noch weit stärker verändern, als wir es heute schon erleben.
7) Religion (zurück zur Inhaltsangabe)
Einen für die Bevölkerungsentwicklung nicht zu unterschätzenden Einfluss hat die Religion. Das Bundesinstitut
für Bevölkerungsforschung veröffentlichte Ende 2023 eine Studie, die diese Aussage noch einmal untermauerte.
Kinderwünsche werden schon in Kindheit und Jugend geprägt. Religiöse Menschen haben bereits im Jugendalter
höhere Fertilitätsabsichten. Die befragten religiös geprägten 15-Jährigen wollten im Schnitt 2,1 Kinder
bekommen. Bei den Gleichaltrigen ohne religiöse Bezüge war der Wert mit 1,7 deutlich geringer und zudem
unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus.
Nun kommen zwei Trends zusammen, die die ethnische Verschiebung in Deutschland verstärken: Während die autochthone
Bevölkerung immer weniger religiös wird, kommen neue Bevölkerungsgruppen, vornehmlich aus islamischen Ländern hinzu, die
deutlich religiöser sind. Wie viele Moslems es in Deutschland derzeit gibt, ist jedoch unklar, weil das
Statistische Bundesamt bei der Erarbeitung des Mikrozensus die islamische Religion nicht erfasst.
Der aktuelle Zensus für das Jahr 2022 belegte jedoch den drastischen Rückgang der christlichen
Bevölkerung. Machten Katholiken 2011 noch in 23 Großstädten die Mehrheit aus, war das 2022 nur noch
in vier Großstädten der Fall: Bottrop, Münster, Paderborn und Trier. Auch in religiöser Hinsicht findet
in Deutschland und Europa eine stille Verschiebung statt.
8) Gesellschaftliches Zusammenleben (zurück zur Inhaltsangabe)
Im Mai präsentierten Forscher des Uni-Klinikums Bonn eine aufsehenerregende Studie. Kann man Einsamkeit mit einem
Nasenspray bekämpfen, fragten die Journalisten. „Depression, Herzerkrankungen oder Demenz — wer dauerhaft einsam
ist, hat ein höheres Risiko, krank zu werden“, sagte das Forscherteam, das in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern
aus Israel 78 sich einsam fühlenden Menschen das Hormon Oxytocin per Nasenspray verabreichte — und Erfolge erzielte.
Oxytocin, darauf machte der Journalist Stefan Schulz in seinem 2022 erschienenen Buch „Die Altenrepublik“ aufmerksam, sei
ein unterschätzter Gegenspieler der Stresshormone. „Wir kennen es kaum, sind aber süchtig nach: Oxytocin. Die
Konzentration dieses Hormons steigt immer dann in unserem Blut, wenn wir uns wohl und sicher, akzeptiert und verstanden
fühlen. Unverhoffter, aber angenehmer Hautkontakt macht Oxytocin manchmal zu einem regelrechten Rauschmittel.“ Oxytocin
sei aber weit mehr als ein „Kuschelhormon“, es fungiere als Neurotransmitter, verringere Ängste, sorge für
mehr Vertrauen.
Allerdings nehmen Vereinsamung und Vereinzelung zu. Immer mehr Jugendliche fühlen sich einsam. Zugespitzt könnte man
sagen: Wenn es weniger Menschen gibt, die noch dazu vereinzelt leben, werden sie psychisch und physisch kränker und
unglücklicher. Schulz zitiert die Psychologin Jean M. Twenge: Junge Erwachsene seien heute deshalb in weniger
Verkehrsunfälle, Schlägereien u. ä. verwickelt, weil sie generell in weniger verwickelt seien. „Sie fühlen sich in
ihren Schlafzimmern am wohlsten.“
Eng verbunden ist dieser Zustand mit der Nutzung von Smartphones. Seitdem es Smartphones gibt, sind Jugendliche
unglücklicher. Wer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringt, ist weniger zufrieden und hat weniger echten sozialen Kontakt.
Eine unglückliche Jugendliche in ihrem Schlafzimmer: Alleinsein macht krank / © IMAGO / Panthermedia
Nicht nur junge Menschen sind von der Vereinsamung betroffen. In den typischen Touristenstädten lassen sich
inzwischen Menschen buchen, die mit einem auf Fotos posieren oder durch die Stadt wandern. In den Alpen werden
Skilehrer gebucht, nicht etwa um Skifahren zu lernen, sondern damit ein einsamer Tourist Zweisamkeit genießen kann.
Unter anderem, weil Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes inzwischen älter als 30 Jahre alt sind, gibt es
auch im ländlichen Raum weniger Großfamilien als noch vor 80 oder 100 Jahren. Das hat nicht nur Auswirkungen auf
die demografische Zusammensetzung, sondern auch auf das einzelne Kind.
Ein Einzelkind, dessen Eltern bei seiner Geburt schon über 30 Jahre alt sind und einen gewissen materiellen Wohlstand
erreicht haben, wird anders versorgt als etwa junge Vier- oder Fünf-Kind-Familien. Das Einzelkind bekommt in der
Regel teurere Kleidung, Smartphones, Computer, und ihm werden mehr seiner Wünsche erfüllt. Wie geht ein
Kind, das so aufwächst, später einmal mit einschneidenden Umbrüchen um, etwa wenn es zum ersten Mal allein
für sich sorgen muss?
Außerdem zeigen Studien, dass Geschwisterkinder sozial verträglicher sind, sich zum Beispiel im Kindergarten
eher mit anderen Kindern verstehen als Einzelkinder. Zudem gibt es Indizien, dass sich Geschwisterkinder später
einmal weniger häufig scheiden lassen. Auch sind sie später psychisch gesünder.
Eine neue Studie aus diesem Jahr stellt fest, dass bei Menschen mit einem kleinen „Verwandtschaftsreservoir“
die Wahrscheinlichkeit, unter körperlichen Einschränkungen und Gesundheitsproblemen zu leiden, überdurchschnittlich
hoch ist. Im Gegensatz dazu leiden Menschen in einem Familiengefüge mit drei Generationen seltener an Depressionen
und körperlichen Einschränkungen. Die Resilienz der verbleibenden jungen Leute nimmt ab.
9) Kultur (zurück zur Inhaltsangabe)
Ohne Jugend keine Jugendbewegung. Seit mindestens 1990 gibt es in Europa keine Jugendbewegungen mehr. Die
sogenannte Klimajugend ist bei genauerem Hinsehen keine, denn die Impulse kamen nicht aus der Jugend, sondern
von Erwachsenen. Man denke nur an den Film „Eine unbequeme Wahrheit“ von Ex-US-Vizepräsident Al Gore und dem
Regisseur Davis Guggenheim sowie an den Einfluss von Greta Thunbergs Eltern auf das Engagement ihrer psychisch
beeinträchtigten Tochter.
Soziologen erklärten sich den Mangel an Jugendbewegungen schon vor Jahrzehnten als Folge der Annäherung
zwischen den Generationen. Die Erwachsenen wurden nicht mehr als autoritär wahrgenommen, gegen die man sich
auflehnen müsse. Der Soziologe Andreas Reckwitz sprach 2017 von einer „Juvenilisierung“, das heißt:
„Jugendlichkeit als kulturelles Muster wird für alle Altersstufen attraktiv und dominant. Dabei enthält der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse nachgerade eine innere Affinität zur Jugendlichkeit. Ein kulturelles Muster von (moderater) Jugendlichkeit prägt ihren aktivistischen Lebensstil, der einen Anspruch auf Selbstverwirklichung und 'Offenheit' erhebt, in Freizeit und Beruf nach neuen Erfahrungen strebt, der urban ist und sich durch erheblichen körperlichen Bewegungsdrang auszeichnet.“
Doch viel eher könnte eine andere Erklärung für die (polit-)kulturell schlaffere Jugend zutreffen: Es fehlen die Mitglieder. Vor 150 Jahren bildeten die jungen Leute die überragende Mehrheit der Gesellschaft. Seither ist diese Gesellschaft vergreist. Der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn hatte eine enge Korrelation zwischen den dritten und vierten Söhnen einer Gesellschaft und politischen, religiösen bis hin zu kriegerischen Wandlungen festgestellt. Zwar muss dies nicht so sein, wie die Beispiele China oder Brasilien zeigen, aber als Voraussetzung für solche Umschwünge kann eine hinreichend große Anzahl an vor allem männlichen Jugendlichen als gesichert gelten.
10) Innovation und Verteidigung (zurück zur Inhaltsangabe)
Das Alter spielt auch bei der Innovationskraft eine Rolle. Forschungen zeigen, dass Männer wie Frauen während
eines bestimmten Zeitfensters rund um das 35. bis 40. Lebensjahr innovativ sind. Die meisten Entwicklungen in
Unternehmen kommen von Mitarbeitern in diesem Alter. Bei jüngeren und älteren nimmt die Innovationskraft ab, weshalb
entsprechende Statistiken oft wie ein umgekehrtes „U“ aussehen. Wenn aber nicht mehr ausreichend jüngere
Mitarbeiter folgen, wird die Innovationskraft gebremst. Ältere Menschen lernen in der Regel auch weniger oft
neue Technologien kennen, was Entwicklungen bremst, wenn diese Altersgruppe einen Großteil der Gesellschaft ausmacht.
Der demografische Wandel hat Auswirkungen auf die Landesverteidigung. Er zwang bereits mehrere westeuropäische
Länder zur Abkehr von Wehrpflichtarmeen hin zu professionellen Streitkräften, die aber nicht mehr in der Lage
wären, einen Aggressor zurückzudrängen, sondern für Aufträge an der europäischen Peripherie und für die Arbeit
in der NATO konzipiert sind.
Während sich die Volksrepublik China über die demografischen Folgen für das Bestehen von Nation und Zivilisation
bewusst ist, reift diese Erkenntnis im Westen erst noch. Immerhin haben die Vereinigten Staaten von Amerika
das Problem erkannt. Autor Schulz fasste dies zusammen: „Familienpolitik zählt in Amerika nun zur
Landesverteidigung.“ Er bezog sich u. a. auf das durch einen Parteikollegen verhinderte Vorhaben von
Präsident Joe Biden (Demokratische Partei), „American Families Plan“, der Investitionen und
Steuergutschriften für Familien und Kinder binnen zehn Jahren vorgesehen hätte.
11) Fazit (zurück zur Inhaltsangabe)
Demografische Entwicklungen haben Folgen für ausnahmslos alle Lebenssituationen. Nahezu sämtliche Probleme, mit denen
unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sein wird, haben ihre Ursache in der
alternden — und im Falle Deutschlands schrumpfenden — Bevölkerung. Während andere Länder Demografie als gesamtstaatliche
Herausforderung betrachten, ist Bevölkerungsforschung in Deutschland ein Randthema, vermutlich auch deshalb, weil es
aufgrund der NS-Vergangenheit verpönt ist, über Völker und ihre Bestände zu forschen, selbst wenn es
wissenschaftlich-neutral geschieht.
Über einen Aspekt liest man auch bei den nun verstärkt aufkommenden ökonomischen Implikationen des demografischen Wandels
nie: über Abtreibung und ihre Folgen. Seit der faktischen Freigabe der Abtreibung 1976 sind in Deutschland allein
laut offiziellen Zahlen 6,2 Millionen ungeborene Kinder abgetrieben worden. Rechnet man den Nachwuchs dieser nicht
geborenen Kinder mit einer Geburtenziffer von 1,4 hinzu, dann fehlen heute mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland.
So manche Diskussion, so manches Problem — Stichwort Fachkräftemangel — wäre heute obsolet, wenn diese abgetriebenen
Menschen lebten. Nun müssen der demografische Wandel und seine gesamtgesellschaftlichen Folgen aber diskutiert
werden. Und es müssen Lösungen gefunden werden, die über Immigration hinausgehen. Schließlich wird die Menschheit
bis Ende des Jahrhunderts insgesamt schrumpfen. Und gehandelt werden muss bald, denn demografische Wenden brauchen
Jahrzehnte, bis sie wirksam werden.
(zurück zum Anfang)
„corrigenda online“
Interview von Lukas Steinwandter mit
Dr. Harald Michel
Ist der demografische Niedergang existenzbedrohend für Deutschland?
Was hilft gegen die Krise - und was nicht?
„Wir haben Kipppunkte überschritten, das Land wird sich dramatisch verändern“
Schlűsselwőrter:demografische Krise — Medien und Demografie — Familienpolitik — Bevölkerungsentwicklung — Familie — Geburtenzahl — Konsequenzen

Soziologe Harald Michel: „Wir sind nicht kinderfeindlich, aber wir sind kinderentwöhnt“
© Institut für Angewandte Demografie (I/F/A/D) / CANVA / IMAGO / Funke Foto Services / Corrigenda-Montage
Seit mehr als 50 Jahren sterben in Deutschland mehr Menschen
als geboren werden. Seit Anfang der 1970er liegen die Geburtenzahlen unterhalb des Reproduktionsniveaus von 2,1, also der
durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau, damit der Bevölkerungsstand erhalten bleibt. Es gibt in Deutschland nicht viele
Experten, die sich auf dem Gebiet der Demografie auskennen und diesen Titel auch verdienen. Zu lange wurde der demografische
Wandel ignoriert und vernachlässigt.
Einer von ihnen sitzt an einem spätsommerlichen Nachmittag in einem Café im Berliner Ortsteil Friedrichshagen. Harald Michel
hält seit mehr als 30 Jahren eine Demografie-Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität. Es ist die älteste in
Deutschland, einen eigenen Lehrstuhl gibt es nicht. Der Rat des gebürtigen Sachsen und promovierten Soziologen war in verschiedenen
Expertengremien gefragt, auch von Regierungen. Doch von der Leistung der Politik im Umgang mit dem demografischen Niedergang
hält Michel nicht besonders viel - ebenso von ihren Möglichkeiten.
Im Interview mit Corrigenda erklärt Michel, was es mit dem demografischen Wandel wirklich auf sich hat, warum frühere
Regierungen wohl Bescheid wussten, aber nicht gehandelt haben, was Deutschland aus den Fehlern anderer Länder lernen kann und
was jetzt zu tun gilt.
Herr Dr. Michel, Sie halten seit über 30 Jahren Vorlesungen zum Thema Demografie, inzwischen sind es die einzigen in ganz Deutschland. Wie schlimm ist die Lage?
Die ist genauso schlimm, wie wir es vorhergesehen haben. Die Entwicklung, insbesondere bei den Geburtenzahlen, ist jetzt offensichtlich. Zwischendurch gab es immer mal wieder, allerdings nur scheinbar, Hoffnung, weil die Geburtenzahlen zulegten, aber das waren ganz normale temporäre Schwankungen im Geburtengeschehen. Aktuell liegen die Zahlen ungefähr ein Drittel unterhalb des Reproduktionsniveaus. Wir wissen das spätestens seit den 70er Jahren. Jetzt werden die Folgen sichtbar. Und die Entwicklung ist bis auf weiteres irreversibel.
Ist diese demografische Krise existenzbedrohend für Deutschland?
Die Frage wird oft gestellt: Was passiert? Sterben die Deutschen aus? Eins kann man sicher sagen: Es wird jemand hier sein, auch in mehreren Generationen, aber es wird sich dann nicht mehr um diese Bevölkerungszusammensetzung handeln, die wir seit Generationen gewohnt sind. Und das müsste man den Bürgern auch deutlich sagen. Unser Land wird sich dramatisch verändern, weil wir bestimmte Kipppunkte längst überschritten haben.
Entwicklung der Zahl der Lebendgeburten und Sterbefälle in Deutschland
© Institut für Angewandte Demografie (I/F/A/D).
Gab es in der europäischen Geschichte jemals eine vergleichbare Situation? Während des Dreißigjährigen Krieges oder während der Pest etwa ist auch ein Drittel der Bevölkerung gestorben.
Nein, eine solche Situation gab es noch nie. Was Sie beschreiben, sind exogene Prozesse. Die Menschen sind an den großen Killern der damaligen Zeit - Krankheit, Krieg und Hunger - in großer Zahl gestorben. Aber die Bevölkerungen hatten in sich immer das Potenzial, sich wieder zu regenerieren, nämlich durch die hohen Kinderzahlen. Die lagen damals zwischen fünf und neun Kindern pro Frau. Wir beobachten jetzt ein ganz neues Phänomen, das es noch nie gegeben hat, außer am Ende des Römischen Reiches vielleicht, als die Fertilitätsrate der Patrizier bei zwei lag, aber dazu ist die Datenlager zu unsicher. Ab der neueren Geschichte, also der vergangenen tausend Jahre, hat es das jedoch nie gegeben, weil das Zusammenspiel zwischen Geburten und Sterbefällen immer funktioniert hat. Die Geburten haben das, was die Sterblichkeit weggeholt hat, wieder wettgemacht, es musste kaum reguliert werden. Es gab natürlich Gesellschaften, die das nicht geschafft haben, zum Beispiel in Osteuropa, die sind verschwunden.
Welche zum Beispiel?
Slawische oder germanische Völker, auch aus der Völkerwanderungszeit, die es nicht mehr gibt. Die Vandalen etwa. Die haben es nicht geschafft, aus verschiedenen Gründen. Aber in der Regel war es so, dass die Sterblichkeit Kerben in die Bevölkerungsentwicklung geschlagen hat, die durch die hohe Geburtenzahl wieder aufgeholt wurde.
„Die Menschen sterben nach der doppelten Lebenszeit, doch plötzlich spielt die Geburtenzahl nicht mehr mit.“
Also ist das stabilisierende Element die hohe Geburtenzahl.
Ja, und jetzt ist es umgekehrt. Heute haben wir die exogenen Faktoren im Griff. Die Menschen sterben heute relativ kontrolliert, und zwar nach der doppelten Lebenszeit als im Durchschnitt der vergangenen tausend Jahre. Doch jetzt plötzlich spielt die Geburtenzahl nicht mehr mit. Die Ausgleichsfunktion fällt aus.
Hat die Wissenschaft eine Erklärung dafür?
Die Bücher, die sich mit dem Geburtenrückgang beschäftigen, füllen Säle. Die Wissenschaft hierzulande beschäftigt sich übrigens schon seit den 1900er Jahren damit. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg finden Sie massenweise Bücher über den Geburtenrückgang mit allen möglichen Erklärungsversuchen.
Wir sind keine Fachzeitschrift. Wie lauten die gängigsten Erklärungen?
Wollen sie meine Lieblingsthese hören?
Ja, bitte!
Sie stammt von Juan Winkelhagen. Das war ein Wissenschaftler, der nach dem Ersten Weltkrieg (1924) ein Buch geschrieben hat über Geburtenrückgang und Radfahren. Er meinte festgestellt zu haben, je mehr sich das Radfahren unter den Frauen verbreite, umso schneller gingen die Geburten nach unten. Das ist insofern eine interessante These, nicht weil es da einen direkten Zusammenhang gäbe, sondern weil es auf Emanzipation zurückzuführen sein könnte. Die Koinzidenz des Anstiegs weiblicher Radfahrer und des Geburtenrückganges haben die gleiche Ursache, ein schönes Beispiel für das Wirken von Hintergrundvariablen in Korrelationsbeziehungen.
„Eines der Szenarien war:
Kinder, Küche, Kirche“
Man könnte Ihnen nun Frauenfeindlichkeit vorwerfen. Sollten Frauen wieder an den Herd, um es zugespitzt zu sagen?
1994 hatten wir ein Treffen im 'American Enterprise Institute' in Washington, einer US-amerikanischen, konservativen Denkfabrik. Die hatten schon in den 1990er Jahren ganz aufmerksam die deutsche Wiedervereinigung studiert. Ich behaupte sogar, es gibt in den USA die zehnfache Zahl von Publikationen über Demografie in Deutschland als von Deutschen selbst. Jedenfalls haben sie die demografische Entwicklung genau beobachtet, und es gab eine Runde, die diskutieren sollte, was in den USA getan werden könnte, sollte es auch derartige demografische Einbrüche geben. Eines der Szenarien war eine Art konservative Revolution: Frauen wieder an die drei 'K' binden - Kinder, Küche, Kirche.
Für wie wahrscheinlich hielt die Runde das?
Die sagten sich: Wir haben das Potenzial noch, wir haben noch Familien mit fünf bis sechs Kindern im religiös geprägten mittleren Westen. Wenn man diese weiter fördern würde, dann könnte es klappen.
Man könnte es auch positiv formulieren: Der Staat und die Gesellschaft müssten Ehe, Familie und Kinder wieder wertschätzen und als etwas Positives darstellen und ansehen.
Ich bin sehr skeptisch, was da die Einflussnahme betrifft. Ich unterscheide mich von denen, die rein ökonomisch an das Thema herangehen. Finanzielle Förderungen, Steuervergünstigungen, Unternehmen, die Mütter bevorteilen - das wird keinen Effekt bringen. Es wird oft gesagt, wir seien eine kinderfeindliche Gesellschaft. Doch das stimmt nicht. Wir sind nicht kinderfeindlich, aber wir sind kinderentwöhnt. Die Gesellschaft ist Kinder nicht mehr gewöhnt. Was muss man also machen? Man muss einen gesellschaftlichen Wandel in den Köpfen herbeiführen, das geht nicht mit Geld. Man muss den Zusammenhang wiederherstellen zwischen Familie und Tradierung des eigenen Lebens. Karl Otto Hondrich, ein eher linker Soziologe, hat einmal gesagt: Gesellschaften, die von Generation zu Generation immer mehr Elternleistungen empfangen, als sie zurück- und weitergeben, geraten damit in ein Ungleichgewicht, das sie vielleicht in ihrem moralischen Kern erschüttert.
Diese Aussage ist eigentlich originär konservativ.
Deshalb widerspreche ich der typisch linken These, wonach es vollkommen egal sei, wo man geboren wird. Es gibt einen Generationenzusammenhang. Der ist vielleicht nicht genetisch oder metaphysisch, aber er ist auf jeden Fall sozial und kulturell. Den kann man nicht ausblenden. Wenn wir dieses Band unterbrechen, dann kappen wir unsere Kultur. Nochmal: Die Bevölkerung wird nicht unbedingt verschwinden, denn es werden andere Menschen hier leben, die werden dann aber vielleicht keinen Kaffee mehr trinken und werden anders aussehen. Am Ende geht es darum, dass man eine Kultur definiert, die man hier vorfinden möchte¸
Wanderungssaldo zwischen Deutschland und dem Ausland
© Institut für Angewandte Demografie (I/F/A/D).
Es gibt sozial schwächer gestellte Familien mit vielen Kindern, die beweisen, dass nicht unbedingt finanzielle Gründe ausschlaggebend sind.
Mein Lieblingsbeispiel für Kinderreichtum in Deutschland ist das Emsland. Kommunen haben dort Preise für kinderfreundliche Politik erhalten, weil ihre Gemeinden relativ hohe Geburtenzahlen aufwiesen. Allerdings hatte der dortige Kinderreichtum nichts mit einer tollen Bevölkerungspolitik des Bürgermeisters zu tun. Dort war damals eine Anlaufstelle für Russlanddeutsche, und es kamen Hunderte russische Altgläubige, die sehr konservativ sind. Die meisten ihrer Familien hatten sechs bis acht Kinder. Die Bürgermeister kamen zu diesen Preisen wie die Jungfrau zum Kinde.
„Die wirtschaftliche Situation hat mit Geburten nichts zu tun.“
Wann begann der heute spürbare demografische Niedergang?
In Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.
Aber das war doch eine wirtschaftlich florierende Zeit!
Die wirtschaftliche Situation hat mit Geburten nichts zu tun. Wir können hohe Geburtenzahlen haben bei schwächerer Konjunktur, und wir können hohe Zahlen haben bei guter Konjunktur. Ökonomie ist nicht der alleinige Erklärungsmechanismus. Deutschland hinkt in der Thematik hinterher. Wissen Sie, seit wann es Demografielehrstühle in Deutschland gibt? Erst seit 1972/73. Damals gab es in den USA schon über 2.000 Wissenschaftler, die sich damit befassten. In Deutschland richtete man den ersten Lehrstuhl in Bielefeld ein, ab 1981 mit Herwig Birg, der dann in den Ruhestand ging, und 1972 in Ostberlin an der Humboldt-Universität bis 2018. Seitdem gibt es keinen expliziten Lehrstuhl für Demografie mehr.
Anders auch in Frankreich. Die Franzosen beschäftigen sich schon länger mit ihrem demografischen Niedergang.
Deren größter Einschnitt war die Niederlage 1871. Eine populäre These ist, dass der Krieg gegen das Deutsche Reich verlorenging, weil Frankreich zu niedrige Geburtenzahlen hatte. Doch Frankreich hatte ein anderes Bevölkerungssystem. Vor 1900 waren 90 Prozent der Menschen Bauern. In Frankreich gab es das Realteilungsprinzip, eine besondere Form der Vererbung. Es war für den Bauern tödlich, wenn er drei oder mehr Söhne hatte, weil er Grund und Hof aufteilen musste. Also war der französische Bauer bestrebt, weniger Kinder zu bekommen.
Wie sah damals die Geburtenkontrolle aus? Es gab ja keine Pille.
Fast jede Gesellschaft kann ihre Fruchtbarkeit begrenzen, wenn es für ihre Existenz notwendig ist, das gilt auch für vorindustrielle, agrarische Gesellschaften, die noch nicht über moderne Präventionsmechanismen verfügten. Die Mittel hierzu sind vielfältig, sie reichen von Koitus Interruptus und Kondomen sowie Laktationsamenorrhö (ausgedehnte Stillzeiten), über pflanzliche Verhütungsmittel bis hin zu Abtreibungen und Kindstötung, z. B. durch Vernachlässigung.
Also hat Frankreich schon länger mit dem demografischen Niedergang zu kämpfen?
Franzosen hatten schon damals nur zwei oder drei Kinder. Gleichzeitig setzte ein Geburtenrückgang ein, sogar früher als in Deutschland. Aus Frankreich kommt auch die Dekadenz-Debatte, die französische Literatur ist voll davon.
Das bedeutet?
Die Bevölkerung wird dekadent, weil sie keine Kinder mehr bekommt. Der Demograf Arsène Dumont formulierte als einer der Ersten diese Perspektive einer selbstzerstörerischen individualistischen Zivilisation, das principe toxique, die ihre eigene demografische Grundlage zerstört. Das war die Grundlage für das große Trauma der Franzosen. Nach der Französischen Revolution kommt die Dekadenz, dann 1871, und man verliert. Es ist die größte Demütigung für die Franzosen, bedeutender als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen. Seitdem gibt es in Frankreich Bevölkerungspolitik. Aber die ist nicht sehr erfolgreich.
„Von der Leyen setzte auf das Kindergeld. Doch Kindergeld erzeugt keine Kinder.“
Man sollte auch von den Fehlern anderer lernen: Was also hilft nicht?
Diese Diskussion führten wir, als Ursula von der Leyen Bundesfamilienministerin war. Ich hatte mehrere Diskussionsveranstaltungen mit ihr, leider hat sie dann das Gegenteil von dem gemacht, was wir besprochen hatten.
Das heißt?
Geldzuwendungen zum Beispiel. Von der Leyen setzte auf das Kindergeld. Doch Kindergeld erzeugt keine Kinder. Sie glaubte, Familienpolitik funktioniere wie mit einer Box, bei der man oben Geld reinstecke und unten Kinder herauskommen.
Aber Frankreich hat trotzdem konstant eine höhere Geburtenziffer als Deutschland.
Das liegt an der Maghreb-Zuwanderung. Das dürfen Sie aber nicht thematisieren. In Frankreich ist das ein Tabu, dort werden Geburten nicht nach ethnischer Herkunft erfasst. Durch die Maghrebiner wird die Fruchtbarkeit noch ein bisschen höher gehalten. Ich behaupte aber - und es kann mich keiner widerlegen, weil die Zahlen nicht erhoben werden -, dass die autochthone Französin genauso wenig Kinder bekommt wie die Deutsche.
Frankreich wird dennoch oft zum Vorbild genommen. Es gebe dort eine bessere Familienpolitik, es werde, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, mehr Geld dafür ausgegeben.
Das macht alles keine Unterschiede! Dieses Argument mit Kindergärten und Kitaplätzen, das greift überhaupt gar nicht, und man kann das auch belegen, denn wir haben Ostdeutschland als Folie. In Ostdeutschland gibt es seit der Wiedervereinigung eine Vollversorgung an Kindergartenplätzen, und dennoch war die Fruchtbarkeit in Ostdeutschland bis vor kurzem geringer als in Westdeutschland.
Wir hatten vergangenes Jahr eine Ökonomin im Interview, die Ostdeutsche befragte und unter anderem zu dem Ergebnis kam, dass das Umfeld eine große Rolle spiele. Wo es Kinder im Umfeld gibt, ist Kinderkriegen normaler, also Kinder als ein selbstverstärkender Faktor.
Womit wir wieder bei der Kinderentwöhnung wären.
Warum die Politik nicht gehört und gegengesteuert hat?!
Sie haben vorhin gesagt, man wisse seit den 1980ern, wie sich die demografische Situation in Deutschland entwickeln werde. Warum haben die Politiker nicht damals schon darauf gehört und Gegenmaßnahmen eingeleitet?
Wir hatten Ende der 1980er Jahre eine sehr günstige Situation: Es gab Haushaltsüberschüsse. Deutschland hätte damals ökonomisch einige Weichen stellen können. Ich rede jetzt gar nicht von Geburtenbeeinflussung, sondern vom Fitmachen der sozialen Sicherungssysteme mit Kapitaldeckung. Also das, was die Bundesregierung jetzt mit Schulden und in homöopathischen Dosen machen will. Man hat damals sogar darüber diskutiert. Die Debatte lief auch viel ernsthafter und ohne denunziatorische Anwürfe, wie das heute zum Teil geschieht. Es gab auch einige Befürworter, doch dann kam der Mauerfall und die Wiedervereinigung, und man hat den gesamten Fokus auf Ostdeutschland gerichtet. Ich hatte das Gefühl, dass einige ganz froh darüber waren, weil sie sich nicht mehr mit dem Thema befassen mussten.
Ist Demografie für Politiker vielleicht auch deshalb uninteressant, weil man in einer parlamentarischen Demokratie wie der deutschen zu sehr in Legislaturperioden denkt und die Folgen demografischer Entwicklungen sich erst in 80 oder 90 Jahren niederschlagen?
Politiker hören nicht mehr zu, wenn man ihnen sagt, diese oder jene Entwicklung gehe über Generationen. Sachsen war, soweit mir bekannt, das erste Bundesland, das eine Expertenkommission „Demografischer Wandel“ auf Regierungsebene eingerichtet hat. Sie sollte „Sachsen fit machen für den demografischen Wandel“.. Ich war von Beginn an Mitglied. Der Ministerpräsident fand unsere Ergebnisse plausibel und richtig, aber wissen Sie, was er schließlich gesagt hat? Wenn ich das befolge, gewinne ich keine Wahlen mehr.
Die DDR hat in den 1970ern mit familienpolitischen Maßnahmen begonnen. Die haben einige Jahre gewirkt, die Geburtenzahlen stiegen, doch dann gingen sie wieder runter. Woran lag das?
1971 ist in Ost und West der Schwangerschaftsabbruch auf bemerkenswerte Weise gleichzeitig liberalisiert worden. Dann kam die Pille. Und neun Monate später brachen die Geburten in beiden Ländern ein. Westdeutschland hatte die Zuwanderung, weshalb über das Demografieproblem nicht geredet wurde. Bevölkerungswissenschaftler waren schon halb Rassisten, so die Ansicht. In der DDR aber war es ganz anders. Dort hat man es als Bedrohung empfunden, wenn die Bevölkerung verschwindet: „Die glauben nicht mehr an den Sozialismus, also kriegen sie keine Kinder.“ Daraufhin hat die DDR relativ klug reagiert. Sie haben 1972 einen Lehrstuhl und ein Institut für Demografie gegründet. Doch die konnten auch nichts anderes herausfinden als festzustellen, dass es sich um einen allgemeinen Trend handelt, der durch die verbesserte Geburtenkontrolle nur beschleunigt wurde. In der Zwischenzeit wurde Erich Honecker als erster Sekretär des Zentralkomitees installiert. Der hat dann eine Art massenhafte Sozialpolitik eingeführt, Wohnungsbauprogramm, Kinderprämien usw. Bevor die DDR 1986 pleite war, hat sie 60 Prozent des Bruttosozialprodukts für Sozialpolitik ausgegeben. In 15 Jahren kann man ein Land wirtschaftlich ruinieren¸
Prognose zur Bevölkerungsentwicklung aus dem Jahr 2004
© Institut für Angewandte Demografie (I/F/A/D).
Kleinräumliche Bevölkerungsdynamik: Die Entwicklung trat so ein wie prognostiziert
© Institut für Angewandte Demografie (I/F/A/D).
Aber hatte das DDR-Regime denn Erfolg auf demografischer Ebene?
Das ist interessant, und was ich jetzt sage, kann man auch in anderen Ländern wie Schweden nachweisen: Die Leute überlegen sich, ob sie ein oder zwei Kinder wollen, und ob das Sozialprogramm denn dauerhaft bestehen bleibt. Wenn sie Kinder wollen, dann ziehen sie den Kinderwunsch einfach vor. Das ist in den 1970ern massiv geschehen. Aber schon Ende des Jahrzehnts konnte man sinkende Werte messen. Ab 1979 hat die DDR die Geburtenzahlen (TFR - Frauen-Kinder-Zahlen) nicht mehr veröffentlicht, weil die Fertilität wieder zu sinken begann. Die Paare haben den Kinderwunsch einfach vorgezogen, mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung hatte das nichts zu tun, die hat nur einen bestehenden Trend beschleunigt.
Obwohl die sozialpolitischen Maßnahmen blieben?
Das ist eine alte politische Weisheit: Sozialpolitik kann man nie zurücknehmen. Nie, außer bei Strafe des eigenen politischen Untergangs. Als Bürgergeldempfänger würde ich also ganz optimistisch bleiben. Mit den Geburten und der Sozialpolitik ist es wie mit einem Tischtuch: Wenn man es zusammenschiebt, dann habe ich eine Beule - die vorgezogenen Kinder -, dafür gibt es dann auf der anderen Seite gar kein Tischtuch mehr, also einen Einbruch der Geburtenzahlen. Man könnte sagen: Im Gesamtpaket betrachtet ist Geburtenpolitik sogar kontraproduktiv. In den 1990er Jahren bin ich für diese Ansicht heftig angegriffen worden. Aber jetzt, 30 Jahre später, wo die Frauen alle aus dem Alter der Kinderphase heraus sind, kann ich es ja beweisen.
Gerade konservative Parteien werben aber genau dafür, zum Beispiel die AfD.
Das ist einer meiner Hauptkritikpunkte am AfD-Programm. Sie haben, wie im Übrigen die anderen Parteien auch, eine unterkomplexe Bevölkerungspolitik. Ich frage mich, wer das verfasst hat. Man kann über die AfD viel diskutieren, aber bevölkerungspolitisch ist sie überwiegend naiv.
Skeptisch bei Flüchtlingszuwanderung: „Kontraste“ veröffentlichte Sendung nicht.
Kommen wir zum Thema Medien und Demografie. Wenn der demografische Niedergang alle Bereiche einer Gesellschaft umfasst und so bedrohlich ist, dann müsste er doch ein dominierendes Thema in den Medien sein.
Da gibt es zwei Entwicklungen: Zunächst einmal haben Medien nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne. Themen laufen sich irgendwann tot, wie wir beim Klimathema gesehen haben. Dann gibt es diese Wellen. Die Demografiedebatte war schon einmal ganz weit oben auf der Agenda. Etwa von 2000 bis 2010. Dann wurde sie abgelöst durch die alles dominierende Zuwanderungsdebatte. Das hat großen Schaden angerichtet. Denn seitdem durfte nicht mehr realistisch über Demografie diskutiert werden, weil es ein Universalargument gab: Zuwanderung löst alle Probleme. Da lautete das Credo, dass immer etwas Positives herauskommen muss.
Das klingt wie rechtspopulistisches Geraune.
Ich kann Ihnen ein wunderbares Beispiel nennen. Im September 2015 begleitete mich ein Team der öffentlich-rechtlichen Politiksendung „Kontraste“ einen Tag lang am Institut. Die Journalisten interviewten mich, und ich sagte ihnen, dass ich das mit der Zuwanderung etwas differenzierter sehe und dass man nicht pauschal sagen könne, dass es nur positive Aspekte gebe. Gegen 20 Uhr rief mich der Redakteur an, den ich schon von anderen Sendungen kannte. Er weinte fast, als er mir mitteilen musste, dass er von oben gesagt bekommen habe, die Aufnahmen dürften nicht gebracht werden, da nur positiv über Zuwanderung berichtet werden dürfe. Stattdessen kam dann an dem Abend ein Beitrag über einen syrischen Zahnarzt, der schon seit den 1960ern in Berlin lebt, als Beispiel für gelungene Integration. Das war damals ungefähr so wie während der Corona-Pandemie, als bestimmte wissenschaftliche Meinungen schlicht nicht veröffentlicht werden durften.
Zur Person Dr. Harald Michel
Dr. Harald Michel, 1955 in Sachsen geboren, studierte Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte
zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands von 1816 bis 1933. Im Jahr 1992 gründete er das Institut für Angewandte Demografie
(I/F/A/D) und ist seitdem dessen Leiter. Er war Mitglied in mehreren Expertenkommissionen in verschiedenen Ländern. Seit
1993 hält er die Vorlesungsreihe „Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte der Demografie“ an der
Humboldt-Universität. Michel veröffentlichte zahlreiche Bücher und Fachartikel. Zuletzt erschien von ihm:
„Demographische Entwicklung und Auswirkungen auf die Raumentwicklung - Am Beispiel Brandenburg und der Uckermark“, Akademie
für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, Hannover 2024. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Was haben Sie in der Situation gemacht? Haben Sie sich beschwert?
Ich habe seitdem beschlossen, nur noch in bestimmten Medien aufzutreten. Ich werde zum Beispiel regelmäßig von Medien in Hongkong oder Südkorea interviewt.
Sie sagten, das Thema Demografie verschwinde und käme in Wellen. Positiv gewendet könnte man nun sagen, es ist wieder Zeit, das Thema zu behandeln.
Das kommt wieder. Es wird aus allen Knopflöchern platzen, denn es ist ja nicht so, dass es nur den Arbeiter- oder Fachkräftemangel betreffen wird. Noch mehr und vor allem werden wir es in den kommenden Jahren in den Sozialversicherungssystemen bemerken, vor allem in der Krankenversicherung. Die Pflegeversicherung fliegt jetzt gerade auseinander, weil eine gravierende Verschiebung stattfindet zwischen denen, die in der Versicherung sitzen, und denen, die einzahlen. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen jetzt in Rente. Es geht aber noch nicht einmal so sehr um die Rentenzahlungen, sondern um die Versorgung mit medizinischen Mitteln. Das wird das System sprengen. Seit 30 Jahren weiß man das. Das Verhältnis der Generationen ist schon jetzt dramatisch verändert, und die Dynamik wird noch zunehmen. In Berlin verdoppelt sich die Zahl der über 80-Jährigen in den nächsten fünf Jahren. Aber sehen Sie irgendwo, dass hier in Größenordnungen Altenheime gebaut werden? Die Regierung ist auf diesem Auge blind, sie kann und will damit nicht mehr umgehen.
„Wenn ich keine Kinder habe, habe ich auch niemanden, der mich pflegen kann.“
Wird die Familie wieder wichtiger werden, wenn der Sozialstaat versagt?
Das Problem ist, ein Drittel dieser Senioren hat keine Familie. Wenn ich keine Kinder habe, habe ich auch niemanden, der mich pflegen kann. In den Großstädten ist der Anteil der Kinderlosen sehr hoch. Es wird einen Notstand geben, aber die Regierung macht sich Gedanken über Fahrradwege und gendergerechte Toiletten. Diese falsche Priorisierung der Probleme in den letzten Jahrzehnten gilt für jede der bisher regierenden Parteien.
Die großen Medien könnten positiver über Familie schreiben.
Die schreiben lieber öber die veränderten Familienstrukturen, dabei wird das völlig überzeichnet. Man muss da einiges geraderücken: In den Feuilletons wird es oft so dargestellt, als ob die traditionelle Familie sich auflöse in eine bunte Beliebigkeit. Das stimmt nicht. Alle Zahlen, die wir dazu haben, zeigen, dass es ein stabiles Segment von rund zwei Dritteln gibt, die eine klassische Familie wollen. Wir sagen dazu Ottonormalverbraucher. Das ist übrigens das Milieu, das unsere Gesellschaft trägt. Schon immer. Die anderen 20 bis 30 Prozent variieren, aber diese Gruppe ist für die Resilienz der Gesellschaft nicht besonders gefährlich. Die Gesellschaft lebt von den Ottonormalverbrauchern: Zwei-Kind-Familie, zahlen Eigenheim ab, haben einen SUV in der Garage, fahren zum Urlaub in die warmen Länder und hören Helene Fischer. Dieses Segment sorgt übrigens auch für demografische Stabilität. Es gibt eine unerträgliche mediale Arroganz, die teils so verachtend auf diese Menschen herabblickt. Das rüttelt sich aber politisch gerade zurecht. Diese „Normalos“ wenden sich Parteien zu, die sie eher als ihre Interessenvertreter ansehen, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Ländern.
„Man muss einen gesellschaftlichen Wandel in den Köpfen herbeiführen, das geht nicht mit Geld.“
© IMAGO / PhotoAlto
Wo sind die Folgen des demografischen Wandels noch sichtbar?
In der räumlichen Differenziertheit zum Beispiel. Wir werden in den kommenden Jahrzehnten extreme Unterschiede zwischen Stadt und Land bekommen. So wie in den USA. Wenn Sie etwa in Pennsylvania sind und nach New York fahren, sehen sie krasse Unterschiede.
Könnte es sein, dass es in Deutschland bald entvölkerte Regionen gibt?
Natürlich, und ich plädiere sogar dafür, diese Entvölkerung nicht zu bekämpfen, wie es die gegenwärtige Regierung tut, sondern vielleicht sogar zu unterstützen. Wenn ich den nächsten Arzt in 80 Kilometern Entfernung habe, ist das nicht mehr machbar für eine alte Bevölkerung.
Und in den Städten?
Dort wird es eine Veränderung durch Zuwanderung geben, auch eine ethnisch-kulturelle. Ob man die nun gut oder schlecht findet, ist eine andere Frage. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich mit Kollegen darüber debattierte, als die Bevölkerung mit Migrationshintergrund noch fünf Prozent ausgemacht hatte. Sie haben beschwichtigt und gemeint, das habe keine Folgen. Jetzt aber reden wir von 60 Prozent Migrationshintergrund bei Minderjährigen in Städten wie Pforzheim oder Offenbach. Das verändert eine Gesellschaft natürlich dramatisch, einfach aufgrund der numerischen Zusammensetzung. Das muss man den Leuten ehrlich sagen. Sie wurden ja auch nicht gefragt, ob sie das wollen, und man schenkt ihnen jetzt keinen reinen Wein ein. Das ist in meinen Augen fahrlässig. Das wird sich bitter rächen.
„Den Wandel kann man kurz- und mittelfristig nicht stoppen oder umkehren.“
Seit der faktischen Freigabe der Abtreibung 1976 sind in Deutschland laut offiziellen Zahlen 6,2 Millionen ungeborene Kinder abgetrieben worden. Rechnet man die zu erwartenden Kinder dieser nicht geborenen Kinder hinzu, dann fehlen heute rund zehn Millionen Menschen in Deutschland. Spielt Abtreibung in der Forschung eine Rolle?
Nein, das ist kein Thema. Wenn, spielt es eine Rolle in der politischen Debatte. In Deutschland lassen aber viele die Finger davon, weil es ein Tabuthema ist. Ich warne aber davor, diese Rechnung aufzumachen. Denn Kinderkriegen ist das eine, das andere ist aber, wie diese aufwachsen. Wichtig ist, dass Kinder liebevoll betreut werden und in einer stabilen Umgebung aufwachsen. Ich gebe Ihnen ein dramatisches Beispiel, was passieren kann, wenn die Regierung eine äußerst restriktive Abtreibungspolitik verfolgt: Rumänien unter Nicolae Ceaușescu. Der hatte sich mit Leonid Breschnew und seinen „Brüdervölkern“ überworfen und wollte in Konkurrenz zur Sowjetunion und China sein eigenes Großreich aufbauen. Dafür brauchte er aber eine große Bevölkerung. Also hat er in den 1970ern sämtliche Geburtenkontrollmaßnahmen verboten. Auf Abtreibung stand die Todesstrafe für die Frau. Das war teilweise geradezu pervers: Frauen mussten in den sozialistischen Kollektiven, also in den Betrieben, öffentliche Regelkalender führen, um nachzuweisen, dass sie keine Geburtenkontrolle machten. Sie wurden dazu gedrängt, Kinder zu bekommen. Das hat zur Folge gehabt, dass es Tausende Kinder gab, die Mütter und Väter partout nicht wollten. Die Kinder wurden ausgesetzt oder in Heime gegeben.
Das ist ein Extrembeispiel. Heute ist es so, dass auf ein zur Adoption freigegebenes Kind vier bis fünf Adoptiveltern kommen¸ Das heißt, wer heute ungewollt schwanger ist und das Kind partout nicht will, kann es zum Beispiel zur Adoption freigeben.
Ja, das kann man. Aber das kann sich wieder ändern. Womit wir wieder bei der Frage am Anfang sind. Ein Szenario, das wir damals in Washington besprochen hatten, war, dass es bestimmte Frauen gibt, die für die Reproduktion zuständig sind, und solche, die arbeiten. Also eine Art Arbeitsteilung. Doch ethisch-moralisch hätte ich da meine Zweifel. Eine konkrete Antwort habe ich auf Ihre Frage nicht. Meine Aufgabe ist es, auf die Vor- und Nachteile hinzuweisen. Ein Abtreibungsverbot hätte auch seine Schattenseiten.
Nun würde ich Sie zuletzt doch noch einmal bitten, aus der Beobachterrolle herauszukommen. Wenn die nächste Bundesregierung auf Sie zukommen würde, und Sie Chef eines Beratergremiums zum Thema demografischer Wandel wären, was würden Sie dieser Regierung raten?
Das gleiche, was ich immer gemacht habe. Den Wandel kann man kurz- und mittelfristig nicht stoppen oder umkehren. Was eine Regierung aber tun kann, ist, diesen Wandel sozialverträglich zu gestalten.
Das heißt?
Ich passe meine Institutionen an diesen Wandel an, und zwar in dem Sinne, dass nicht Situationen entstehen, die die Demokratie auflösen können. Das kann nämlich passieren. Mecklenburg-Vorpommern ist teilweise so dünn besiedelt, dass in einigen Regionen keine validen Wahlen mehr durchgeführt werden können, weil kein Wahlvorstand mehr gebildet werden kann. Das heißt, wer wählen will, muss in einen anderen Ort fahren. Gleichzeitig wurde der Rechtsstaat zeitweise aufgehoben, als ein Jahr lang ein Flughafen als Umschlagplatz für Rauschgift aus Osteuropa genutzt wurde. Das hat aber niemand mitbekommen, weil niemand mehr dort wohnt. Solche Entwicklungen lähmen eine Gesellschaft, und sie muss sich anpassen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Migrationspolitik. Seit 50 Jahren lässt Deutschland Migration über sich ergehen. Wir haben null Einfluss auf die Zusammensetzung der Migranten und die rechtliche Art und Weise ihrer Einreise. Wir müssen dringend anfangen, über Migrationspolitik zu sprechen. Politik heißt Regulierung, und die findet in Sachen Migration nicht statt.
Das waren jetzt eher kurzfristige Maßnahmen. Denken Sie über die Legislatur hinaus.
Das ist leider ein etwas verbrannter Begriff, aber es müsste wieder eine klare Wertepolitik gemacht werden. So wie Helmut Kohl das einmal andachte, aber nie umgesetzt hatte. Die Gesellschaft muss sich aber erst mal im Klaren sein, wohin sie will und was sie von Zuwanderern will. Das ist in Deutschland aber in meinen Augen nicht möglich, weil die Deutschen selbst nicht wissen, wer sie sind, was sie wollen und wo ihr Platz ist. Das behindert alle anderen Faktoren. Solange die Deutschen selbst nicht wissen, was sie als Gesellschaft wollen, brauchen wir über alles andere nicht zu reden.

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