Lukas Steinwandter
Politik, Verteidigung, Kultur, Zusammenleben
It's the demography, stupid
20.07.2024 — 07:38
Noch nie in der Geschichte Europas brachen die Geburtenraten derart ein wie heute,
während die Lebenserwartung stieg. Nahezu alle Probleme, mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten konfrontiert werden,
hängen damit zusammen. Corrigenda leuchtet die schwarzen Flecken der Demografie-Debatte aus.
Demographischer Wandel / ©IMAGO / Rupert Oberhäuser / Corrigenda-Montage
Ob wir es wollen oder nicht, wir alle sind Protagonisten und Zeugen einer noch nie dagewesenen Entwicklung: Europas
Bevölkerung schrumpft rapide, gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Dieser demografische Wandel sei kein
gewöhnlicher Strukturwandel, betont der Soziologe Harald Michel, sondern ein „Megatrend“, der uns noch
mindestens ein Jahrhundert lang beschäftigen wird. Der Berliner Humboldt-Uni-Dozent betont gegenüber
Corrigenda: „Er erfasst sämtliche Lebensbereiche und wird die betroffenen Gesellschaften in noch
nicht erlebten Maßen verändern.“
Und er mahnt: „Es gibt deshalb keine fertigen und erprobten Rezepte, wie die europäischen Gesellschaften
angemessen auf diese Entwicklung reagieren sollten. Die mit dem demografischen Wandel verbundenen Veränderungen
stellen die europäische Bevölkerung vor vollkommen neuartige und sehr komplexe Herausforderungen.“
Inhaltsverzeichnis
1) So kraftvoll sind Bevölkerungsentwicklungen
2) Alterung und die vier Dimensionen des demografischen Wandels
3) Die ethnische Zusammensetzung verändert sich
4) Die räumliche Verteilung
5) Die Folgen
6) Politik
7) Religion
8) Gesellschaftliches Zusammenleben
9) Kultur
10) Innovation und Verteidigung
11) Fazit
Klingt übertrieben? Ja, doch das Gesagte ist wahr, vielleicht sogar untertrieben, wenn man sich auf die
verblüffende Welt der Demografie einlässt. Im Unterschied zu Corona-Modellierungen schätzen Demografen
nicht nur, sie sagen voraus. Warum die Vorhersagen so genau sind, liegt daran, dass man anhand der
zusammengefassten Geburtenziffern von heute ziemlich exakt berechnen kann, wie viele Kinder die heute
geborenen Kinder später zeugen beziehungsweise zur Welt bringen werden.
1) So kraftvoll sind Bevölkerungsentwicklungen
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Und diese Bevölkerungsentwicklung verläuft nicht linear, sondern exponentiell. Das wiederum liegt an den sich
verändernden Kohorten der Frauen. Ein Beispiel, mit welcher Wucht demografische Niedergänge sich ausprägen können, zeigt
folgende Grafik:
Demografischer Wandel: So schnell schrumpft eine Bevölkerung bei einer
Geburtenziffer von 1,4 / © Corrigenda
Das Bild zeigt eine Population von 1.000 Männern und 1.000 Frauen bei einer Geburtenziffer von 1,4 Kindern
pro Frau. Schon in der zweiten Generation sind es nur noch 700 Frauen, dann 490, dann 343 — und nach rund
200 Jahren ist diese Population dezimiert auf weniger als 100 Frauen. Natürlich verändern sich die
Geburtenziffern im Laufe der Zeit, bleiben nicht exakt konstant wie im Beispiel, doch mit welcher Vehemenz
sie auf eine Bevölkerung durchschlagen, wird an diesem Beispiel deutlich.
Freilich gilt dies auch umgekehrt, bei einer hohen Kinderzahl. Die nachstehende Grafik zeigt eine Population
von 100 Männern und 100 Frauen bei einer Geburtenziffer von 3 Kindern pro Frau. Nach vier Generationen, also
nach rund 120 Jahren, hat sich die Bevölkerung verfünffacht, nach 200 Jahren mehr als verzehnfacht. Doch von
einer solchen Kinderzahl sind wir weit entfernt: Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden erst diese Woche
vermeldet hat, sank die Zahl der Kinder je deutscher Frau 2023 auf einen Wert von 1,26.
So stark wächst eine Bevölkerung mit einer Geburtenziffer von 3 / © Corrigenda
2) Alterung und die vier Dimensionen des demografischen Wandels
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Laut dem Soziologen Harald Michel kann der demografische Wandel in vier Bereiche aufgeteilt werden: der quantitativen
Veränderung der Bevölkerungszahl, der Veränderung der Altersstruktur bzw. der Verschiebung der Proportionen, der
Veränderung der soziokulturellen Struktur und der Veränderung der räumlichen Verteilung der Bevölkerung.
Seit 1972 sterben in Deutschland mehr Menschen als geboren werden. Während das Durchschnittsalter 1990 noch
bei 38,3 Jahren lag, stieg dieser Wert bis 2022 auf ein Median-Alter von 45 Jahren an. Deutschland hat damit
nach Japan die älteste Bevölkerung aller großen Industrieländer. Das Median-Alter gibt den Mittelpunkt an, bei
dem die Hälfte jünger, die Hälfte älter ist. Die Bevölkerung Deutschlands ist fast doppelt so alt wie der
Weltdurchschnitt.
Doch das Durchschnittsalter ist die eine Sache, die andere sind die Proportionen. Eine wichtige demografische
Kennziffer ist der Altenquotient. Er gibt an, wie viele Personen ab 65 Jahren auf 100 Personen der Gruppe
zwischen 20 und 64 Jahren treffen. In Deutschland lag der Altenquotient 2023 bei 37, das heißt auf 100
20- bis 64-Jährige kamen 37 über 65-Jährige. Bis 2070 wird sich dieser Wert laut dem Statistischen Bundesamt
dramatisch verschieben: auf 100 20- bis 64-Jährige kommen dann 55 über 65-Jährige.
© Statistisches Bundesamt
Als Konrad Adenauer 1963 das Kanzleramt verließ, waren zwölf Prozent der Menschen in Deutschland über 65 Jahre
alt. Als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, waren es 16 Prozent. Als Angela Merkel 2021 als Regierungschefin
aufhörte, waren es 22 Prozent. Die Entwicklung zeigt die Dynamik der Alterung: Zunächst nimmt der Anteil
der Alten nur langsam zu, schließlich immer schneller. Auf dem Land ist das schon jetzt bemerkbar: Grauhaarige
prägen das Dorfbild, und Frauen mit Kinderwagen sind eine Seltenheit.
Noch schlimmer als Deutschland wird es übrigens osteuropäische Länder treffen. In Litauen und Polen liegt
2070 dann der Altenquotient bei 73 beziehungsweise 64.
Die „Unterjüngung“ (Ursula Lehr) der Bevölkerung, also der Mangel an Kindern, führt neben der Geschlechter- und
Beziehungskrise dazu, dass sich das Zusammenleben verändert. Wie das Statistische Bundesamt vor kurzem
mitteilte, lebte 2023 jeder Fünfte in Deutschland allein. Der Anteil lag über dem EU-Durchschnitt von 16 Prozent.
3) Die ethnische Zusammensetzung verändert sich
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Besonders drastisch, speziell in Deutschland, fallen die soziokulturellen Veränderungen auf. Ihre Folgen
lassen sich nur erahnen. Die Zahlen sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Auf den Punkt gebracht hat
das Thilo Sarrazin. Laut seinen Berechnungen wird 2070 nur noch jeder fünfte in Deutschland geborene
Mensch einen ethnisch deutschen Hintergrund haben.
Auf Corrigenda-Nachfrage legte der Volkswirt seine Parameter offen, die ihn zu diesem Ergebnis führten:
„Laut Mikrozensus 2023 betrug der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei den unter 15-jährigen 2022
bereits 41,5 Prozent. Da die Geburtenhäufigkeit bei Frauen mit Migrationshintergrund deutlich höher ist, schätze
ich, dass gegenwärtig etwa 50 Prozent der Geburten in Deutschland auf Frauen mit Migrationshintergrund entfallen.“
Was zu tun ist
Wir können den Bevölkerungsrückgang eine Zeit lang kompensieren, indem wir die Produktivität steigern,
sowie die Frauenerwerbsquote und das Renteneintrittsalter erhöhen. Diese Maßnahmen werden in absehbarer Zeit
allerdings weitgehend ausgereizt sein. Der Ökonom Thomas Straubhaar sieht in der künstlichen Intelligenz
und der zunehmenden Roboterisierung eine weitere Lösungsmöglichkeit, übersieht dabei jedoch, dass Maschinen
keine Steuern bezahlen und auch keine gesellschaftlichen Strukturen aufrechterhalten können. Oder möchten
Sie Ihre Kinder von Computern unterrichten lassen und im Alter von Robotern betreut werden?
Somit bleibt nur noch die Möglichkeit, die Zuwanderung zu steigern, oder die Geburtenrate zu erhöhen. Dass
letzteres möglich ist, haben schon etliche Länder bewiesen. Frankreich und die skandinavischen Länder
erreichen bereits seit Jahrzehnten konstant hohe Geburtenraten durch eine gute Kinderbetreuung und durch
gezielte steuerliche Anreize, die vor allem die Geburt zweiter und dritter Kinder fördern.
Unsere Probleme hängen offensichtlich mit der Struktur unserer Gesellschaft zusammen und sind durch
Zuwanderung nicht dauerhaft zu lösen, da diese nur Lücken stopft, ohne die Ursachen des Defizits zu
beheben. Daher müssen wir die Strukturen verändern, die für die niedrige Geburtenrate verantwortlich
sind. Auch wenn das nicht einfach sein wird, müssen wir es zumindest versuchen, denn schließlich geht
es um unsere Zukunft.
Zu bedenken gilt: Laut amtlicher Definition hat einen Migrationshintergrund, wer selbst im Ausland geboren ist, oder
der ein Elternteil hat, das nicht in Deutschland zur Welt gekommen ist. Wenn allerdings schon die Großeltern in Deutschland
zur Welt kommen, haben deren Enkel für die amtliche Statistik keinen Migrationshintergrund mehr.
Der frühere SPD-Politiker und ehemalige Berliner Finanzsenator resümiert:
„Das Sinken des Anteils der ethnischen Deutschen unter den Geburten setzt sich von Jahr zu Jahr dynamisch fort, weil
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die Deutschen jedes Jahr rund ein Drittel weniger Kinder haben, als zur
Bestanderhaltung notwendig wäre,
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die Geburtenrate der Frauen mit Migrationshintergrund deutlich höher ist,
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die anhaltend hohe Einwanderung von jährlich 400.000 bis 500.000 in
erster Linie auf junge und jüngere Menschen entfällt, die in Deutschland alsbald Familien gründen bzw. ihre Kinder
im Rahmen des Familiennachzugs nachholen.
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Insofern halte ich es für wahrscheinlich, dass im Jahr 2070 der Anteil der ethnischen Deutschen an den Geburten
eher unter als über 20 Prozent liegt.“
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nach Kreisen / © demografie-europa.eu
4) Die räumliche Verteilung
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Hinsichtlich der räumlichen Verteilung der Bevölkerung hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(BBSR) vor kurzem eine neue Studie präsentiert. Demnach wird die Bevölkerung aufgrund der hohen Zuwanderung bis
2045 um 800.000 Personen anwachsen. Jedoch wird die Entwicklung von einer starken Landflucht geprägt sein.
„Während wirtschaftsstarke Großstädte und ihr Umland sowie zahlreiche ländliche Regionen insbesondere in Bayern
und Baden-Württemberg weiterwachsen, verringert sich die Bevölkerungszahl in strukturschwachen Gegenden abseits
der Metropolen weiter“, schreiben die Experten vom BBSR. „Die Landkreise Erzgebirgskreis (Sachsen), Greiz
(Thüringen) und Mansfeld-Südharz (Sachsen-Anhalt) büßen bis 2045 laut Prognose mehr als ein
Fünftel ihrer Bevölkerung ein.“
Die Forscher werteten auch die künftige Altersstruktur in den verschiedenen Regionen aus. „In Regionen mit stark
rückläufigen Bevölkerungszahlen wird das Durchschnittsalter aber überdurchschnittlich stark ansteigen.“ 2045
werden demnach die Menschen in den Landkreisen Vorpommern-Rügen (Mecklenburg-Vorpommern), Mansfeld-Südharz
(Sachsen-Anhalt), Altenburger Land (Thüringen), Greiz (Thüringen) und Spree-Neiße (Brandenburg)
im Durchschnitt älter als 50 Jahre sein.
5) Die Folgen
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Welche Folgen aber haben all diese Entwicklungen auf die Gesellschaft? Während Volkswirte und Demografen — damals gab
es noch entsprechende Professuren, heute keine einzige mehr — schon in den 1990ern vor diesem demografischen Wandel
gewarnt hatten (und ignoriert wurden), setzt seit wenigen Jahren immerhin in puncto Ökonomie ein Umdenken ein. Wer
bezahlt die Rente? Wo sind die Fachkräfte? Wer finanziert den Sozialstaat? Diese Fragen werden nun immerhin diskutiert.
Wir wollen uns deshalb auf das konzentrieren, was woanders noch nicht oder nur randständig betrachtet wird: Wie
verändert sich der Einzelne, wie verändert sich das Zusammenleben in einer stark schrumpfenden Gesellschaft?
6) Politik
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Ein Rentner hat in der Regel andere Erwartungen an die Politik als ein 16-Jähriger. In einer Demokratie bestimmt
das Volk über seine Repräsentanten, und weil jede Stimme gleich viel wert ist, hat die Zusammensetzung des Demos
(partei-)politische Auswirkungen. Bei der EU-Parlamentswahl in diesem Sommer konnte man dies gut beobachten. Von
den 60,9 Millionen deutschen Wahlberechtigten waren 8,8 Millionen zwischen 16 und 29 Jahre alt, was einem Anteil
von 14,5 Prozent entspricht. Die Gruppe der über 65-Jährigen machte mit 18,1 Millionen anteilsmäßig jedoch mehr
als doppelt so viel aus (29,7 Prozent). Ältere wählten weit überdurchschnittlich Union und SPD. Die AfD oder
kleinere linke Parteien erhielten von ihnen unterdurchschnittlich viele Stimmen.
Auch die ethnische Zusammensetzung sorgt für politische Umbrüche. Die Erdoğan-nahe Partei „Demokratische Allianz
für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA), die ein „positiveres Bild des Islam“ fördern möchte, schnitt in mehreren
Duisburger Stimmbezirken als stärkste Kraft ab. Auch in Gelsenkirchen erzielte sie Achtungserfolge. Zwar war
die Wahlbeteiligung in diesen Bezirken gering, doch aufgrund der oben gezeigten dynamischen Bevölkerungsentwicklungen
kann aus Ausnahmen schnell ein Regelzustand werden.
Bei der Kommunalwahl in England setzten sich mehrere moslemische Kandidaten durch, obwohl diese keiner der großen
Parteien angehören. Nach der wenige Wochen später stattfindenden Parlamentswahl ging ein Video des siegreichen
Labour-Kandidaten Adnan Hussain viral, der sich in einem Saal voller Moslems euphorisch zeigte: „Wir werden
unsere Stimme für Gaza erheben!
Wir werden weiterkämpfen, bis zum Tod, Inshallah!“
Selbstverständlich werden sich neue ethnische Gruppen auch ihren Platz und ihre Privilegien nehmen, die sie
demokratisch erstritten haben; fallweise auch mit Gewalt. Straßennamen, Geschäfte, religiöse Stätten, ja ganze
Straßenbilder werden sich noch weit stärker verändern, als wir es heute schon erleben.
7) Religion
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Einen für die Bevölkerungsentwicklung nicht zu unterschätzenden Einfluss hat die Religion. Das Bundesinstitut
für Bevölkerungsforschung veröffentlichte Ende 2023 eine Studie, die diese Aussage noch einmal untermauerte.
Kinderwünsche werden schon in Kindheit und Jugend geprägt. Religiöse Menschen haben bereits im Jugendalter
höhere Fertilitätsabsichten. Die befragten religiös geprägten 15-Jährigen wollten im Schnitt 2,1 Kinder
bekommen. Bei den Gleichaltrigen ohne religiöse Bezüge war der Wert mit 1,7 deutlich geringer und zudem
unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus.
Nun kommen zwei Trends zusammen, die die ethnische Verschiebung in Deutschland verstärken: Während die autochthone
Bevölkerung immer weniger religiös wird, kommen neue Bevölkerungsgruppen, vornehmlich aus islamischen Ländern hinzu, die
deutlich religiöser sind. Wie viele Moslems es in Deutschland derzeit gibt, ist jedoch unklar, weil das
Statistische Bundesamt bei der Erarbeitung des Mikrozensus die islamische Religion nicht erfasst.
Der aktuelle Zensus für das Jahr 2022 belegte jedoch den drastischen Rückgang der christlichen
Bevölkerung. Machten Katholiken 2011 noch in 23 Großstädten die Mehrheit aus, war das 2022 nur noch
in vier Großstädten der Fall: Bottrop, Münster, Paderborn und Trier. Auch in religiöser Hinsicht findet
in Deutschland und Europa eine stille Verschiebung statt.
8) Gesellschaftliches Zusammenleben
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Im Mai präsentierten Forscher des Uni-Klinikums Bonn eine aufsehenerregende Studie. Kann man Einsamkeit mit einem
Nasenspray bekämpfen, fragten die Journalisten. „Depression, Herzerkrankungen oder Demenz — wer dauerhaft einsam
ist, hat ein höheres Risiko, krank zu werden“, sagte das Forscherteam, das in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern
aus Israel 78 sich einsam fühlenden Menschen das Hormon Oxytocin per Nasenspray verabreichte — und Erfolge erzielte.
Oxytocin, darauf machte der Journalist Stefan Schulz in seinem 2022 erschienenen Buch „Die Altenrepublik“ aufmerksam, sei
ein unterschätzter Gegenspieler der Stresshormone. „Wir kennen es kaum, sind aber süchtig nach: Oxytocin. Die
Konzentration dieses Hormons steigt immer dann in unserem Blut, wenn wir uns wohl und sicher, akzeptiert und verstanden
fühlen. Unverhoffter, aber angenehmer Hautkontakt macht Oxytocin manchmal zu einem regelrechten Rauschmittel.“ Oxytocin
sei aber weit mehr als ein „Kuschelhormon“, es fungiere als Neurotransmitter, verringere Ängste, sorge für
mehr Vertrauen.
Allerdings nehmen Vereinsamung und Vereinzelung zu. Immer mehr Jugendliche fühlen sich einsam. Zugespitzt könnte man
sagen: Wenn es weniger Menschen gibt, die noch dazu vereinzelt leben, werden sie psychisch und physisch kränker und
unglücklicher. Schulz zitiert die Psychologin Jean M. Twenge: Junge Erwachsene seien heute deshalb in weniger
Verkehrsunfälle, Schlägereien u. ä. verwickelt, weil sie generell in weniger verwickelt seien. „Sie fühlen sich in
ihren Schlafzimmern am wohlsten.“
Eng verbunden ist dieser Zustand mit der Nutzung von Smartphones. Seitdem es Smartphones gibt, sind Jugendliche
unglücklicher. Wer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringt, ist weniger zufrieden und hat weniger echten sozialen Kontakt.
Eine unglückliche Jugendliche in ihrem Schlafzimmer: Alleinsein macht krank / © IMAGO / Panthermedia
Nicht nur junge Menschen sind von der Vereinsamung betroffen. In den typischen Touristenstädten lassen sich
inzwischen Menschen buchen, die mit einem auf Fotos posieren oder durch die Stadt wandern. In den Alpen werden
Skilehrer gebucht, nicht etwa um Skifahren zu lernen, sondern damit ein einsamer Tourist Zweisamkeit genießen kann.
Unter anderem, weil Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes inzwischen älter als 30 Jahre alt sind, gibt es
auch im ländlichen Raum weniger Großfamilien als noch vor 80 oder 100 Jahren. Das hat nicht nur Auswirkungen auf
die demografische Zusammensetzung, sondern auch auf das einzelne Kind.
Ein Einzelkind, dessen Eltern bei seiner Geburt schon über 30 Jahre alt sind und einen gewissen materiellen Wohlstand
erreicht haben, wird anders versorgt als etwa junge Vier- oder Fünf-Kind-Familien. Das Einzelkind bekommt in der
Regel teurere Kleidung, Smartphones, Computer, und ihm werden mehr seiner Wünsche erfüllt. Wie geht ein
Kind, das so aufwächst, später einmal mit einschneidenden Umbrüchen um, etwa wenn es zum ersten Mal allein
für sich sorgen muss?
Außerdem zeigen Studien, dass Geschwisterkinder sozial verträglicher sind, sich zum Beispiel im Kindergarten
eher mit anderen Kindern verstehen als Einzelkinder. Zudem gibt es Indizien, dass sich Geschwisterkinder später
einmal weniger häufig scheiden lassen. Auch sind sie später psychisch gesünder.
Eine neue Studie aus diesem Jahr stellt fest, dass bei Menschen mit einem kleinen „Verwandtschaftsreservoir“
die Wahrscheinlichkeit, unter körperlichen Einschränkungen und Gesundheitsproblemen zu leiden, überdurchschnittlich
hoch ist. Im Gegensatz dazu leiden Menschen in einem Familiengefüge mit drei Generationen seltener an Depressionen
und körperlichen Einschränkungen. Die Resilienz der verbleibenden jungen Leute nimmt ab.
9) Kultur
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Ohne Jugend keine Jugendbewegung. Seit mindestens 1990 gibt es in Europa keine Jugendbewegungen mehr. Die
sogenannte Klimajugend ist bei genauerem Hinsehen keine, denn die Impulse kamen nicht aus der Jugend, sondern
von Erwachsenen. Man denke nur an den Film „Eine unbequeme Wahrheit“ von Ex-US-Vizepräsident Al Gore und dem
Regisseur Davis Guggenheim sowie an den Einfluss von Greta Thunbergs Eltern auf das Engagement ihrer psychisch
beeinträchtigten Tochter.
Soziologen erklärten sich den Mangel an Jugendbewegungen schon vor Jahrzehnten als Folge der Annäherung
zwischen den Generationen. Die Erwachsenen wurden nicht mehr als autoritär wahrgenommen, gegen die man sich
auflehnen müsse. Der Soziologe Andreas Reckwitz sprach 2017 von einer „Juvenilisierung“, das heißt:
„Jugendlichkeit als kulturelles Muster wird für alle Altersstufen attraktiv und dominant. Dabei enthält der
singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse nachgerade eine innere Affinität zur Jugendlichkeit. Ein
kulturelles Muster von (moderater) Jugendlichkeit prägt ihren aktivistischen Lebensstil, der einen Anspruch
auf Selbstverwirklichung und 'Offenheit' erhebt, in Freizeit und Beruf nach neuen Erfahrungen strebt, der
urban ist und sich durch erheblichen körperlichen Bewegungsdrang auszeichnet.“
Doch viel eher könnte eine andere Erklärung für die (polit-)kulturell schlaffere Jugend zutreffen: Es fehlen die
Mitglieder. Vor 150 Jahren bildeten die jungen Leute die überragende Mehrheit der Gesellschaft. Seither ist
diese Gesellschaft vergreist. Der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn hatte eine enge Korrelation zwischen
den dritten und vierten Söhnen einer Gesellschaft und politischen, religiösen bis hin zu kriegerischen Wandlungen
festgestellt. Zwar muss dies nicht so sein, wie die Beispiele China oder Brasilien zeigen, aber als Voraussetzung
für solche Umschwünge kann eine hinreichend große Anzahl an vor allem männlichen Jugendlichen als gesichert gelten.
10) Innovation und Verteidigung
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Das Alter spielt auch bei der Innovationskraft eine Rolle. Forschungen zeigen, dass Männer wie Frauen während
eines bestimmten Zeitfensters rund um das 35. bis 40. Lebensjahr innovativ sind. Die meisten Entwicklungen in
Unternehmen kommen von Mitarbeitern in diesem Alter. Bei jüngeren und älteren nimmt die Innovationskraft ab, weshalb
entsprechende Statistiken oft wie ein umgekehrtes „U“ aussehen. Wenn aber nicht mehr ausreichend jüngere
Mitarbeiter folgen, wird die Innovationskraft gebremst. Ältere Menschen lernen in der Regel auch weniger oft
neue Technologien kennen, was Entwicklungen bremst, wenn diese Altersgruppe einen Großteil der Gesellschaft ausmacht.
Der demografische Wandel hat Auswirkungen auf die Landesverteidigung. Er zwang bereits mehrere westeuropäische
Länder zur Abkehr von Wehrpflichtarmeen hin zu professionellen Streitkräften, die aber nicht mehr in der Lage
wären, einen Aggressor zurückzudrängen, sondern für Aufträge an der europäischen Peripherie und für die Arbeit
in der NATO konzipiert sind.
Während sich die Volksrepublik China über die demografischen Folgen für das Bestehen von Nation und Zivilisation
bewusst ist, reift diese Erkenntnis im Westen erst noch. Immerhin haben die Vereinigten Staaten von Amerika
das Problem erkannt. Autor Schulz fasste dies zusammen: „Familienpolitik zählt in Amerika nun zur
Landesverteidigung.“ Er bezog sich u. a. auf das durch einen Parteikollegen verhinderte Vorhaben von
Präsident Joe Biden (Demokratische Partei), „American Families Plan“, der Investitionen und
Steuergutschriften für Familien und Kinder binnen zehn Jahren vorgesehen hätte.
11) Fazit
(zurück zur Inhaltsangabe)
Demografische Entwicklungen haben Folgen für ausnahmslos alle Lebenssituationen. Nahezu sämtliche Probleme, mit denen
unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sein wird, haben ihre Ursache in der
alternden — und im Falle Deutschlands schrumpfenden — Bevölkerung. Während andere Länder Demografie als gesamtstaatliche
Herausforderung betrachten, ist Bevölkerungsforschung in Deutschland ein Randthema, vermutlich auch deshalb, weil es
aufgrund der NS-Vergangenheit verpönt ist, über Völker und ihre Bestände zu forschen, selbst wenn es
wissenschaftlich-neutral geschieht.
Über einen Aspekt liest man auch bei den nun verstärkt aufkommenden ökonomischen Implikationen des demografischen Wandels
nie: über Abtreibung und ihre Folgen. Seit der faktischen Freigabe der Abtreibung 1976 sind in Deutschland allein
laut offiziellen Zahlen 6,2 Millionen ungeborene Kinder abgetrieben worden. Rechnet man den Nachwuchs dieser nicht
geborenen Kinder mit einer Geburtenziffer von 1,4 hinzu, dann fehlen heute mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland.
So manche Diskussion, so manches Problem — Stichwort Fachkräftemangel — wäre heute obsolet, wenn diese abgetriebenen
Menschen lebten. Nun müssen der demografische Wandel und seine gesamtgesellschaftlichen Folgen aber diskutiert
werden. Und es müssen Lösungen gefunden werden, die über Immigration hinausgehen. Schließlich wird die Menschheit
bis Ende des Jahrhunderts insgesamt schrumpfen. Und gehandelt werden muss bald, denn demografische Wenden brauchen
Jahrzehnte, bis sie wirksam werden.
(© Corrigenda)
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